Samstag, 28. August 2010

Die ideale Metapher

Nachdem ich die Adverbien und die Adjektive ausgemerzt hatte, ging ich auf die Jagd nach den Metaphern. Lange musste ich suchen, da sich mir die Vergleiche, die idiomatischen Redewendungen und zu guter Letzt auch noch die Kollokationen in den Weg stellten. Aber dann bog ich um eine Straßenecke und stolperte fast über das Objekt meiner Begierde: eine aufgeblähte Metapher, grün und glibberig, die gerade dabei war in den Gully zu versickern! Meine Augen folgten ihr, und ich blieb einsam und mit leeren Augenhöhlen zurück.
Ich lehnte an der dunklen Straßenecke und leckte meine Wunden. Die Metapher war im Gully versickert! Ohne sie würde ich mich an meinen eigenen Ansprüchen aufhängen müssen. Aber plötzlich wurde das Geschlabber meiner Wundenleckerei durch ein viel heftigeres Geräusch übertönt! Keuchend und hechelnd näherte sich mir der Ehrgeiz, mit tausend schillernden Metaphern im Nacken. Ja, hollodriaho, das würde ein Festtagsschmaus werden.
Der Ehrgeiz warf mir mit einem „Hepp!“ meine Augen zu - er hatte sie aus dem Gully gefischt! Dann breitete er seine Gaben vor mir aus. Da erkannte ich, dass er nur leere Hüllen von Metaphern präsentierte. Hundertmal berührt und nichts ist passiert, dachte ich und erinnerte mich an Wiki, meine abgenutzte Begleiterin. Wer würde mir bei meiner Jagd nach einer wohlgeformten Metapher behilflich sein? Ich sah mich um, und aus dem Schatten der Nacht trat, fein und edel, die Ironie auf mich zu. Ihr wollte ich mich hingeben – erregend und erleuchtend sie empfangen! Es mit ihr treiben, bis die Balken sich bogen.
Der Ehrgeiz wurde in seine Schranken gewiesen und musste sich grollend trollen. Die Ironie und ich hatten nun freie Bahn! Wir fielen übereinander her und genossen Spitzfindigkeiten, Andeutungen und bildhafte Eruptionen bis der Tag anbrach und die Ironie sich aus dem Staube machte. Ich wischte mir die Erinnerung dieser Nacht vom Munde und wartete neun Monate. Da gebar ich die rosigste und prallste Metapher meines Lebens! Und damit ihr kein Schulmeister, kein Erbsenzähler, kein Kitschkamel etwas antun konnte, versteckte ich sie in einem Literaturforum! Weder der Ehrgeiz, noch der Gehorsam durften sie betrachten, nur die Ironie kam gelegentlich vorbei und frönte den Freuden der Vaterschaft.

Kettenreaktion

Es war Krieg. Die Menschen hungerten. Großmutter ließ sich mit dem Gutsverwalter ein und bekam dafür Kartoffeln und Gemüse. Neun Monate später wurde eine Tochter geboren, und Großmutter starb bei der Geburt. Großvater gab die Tochter ins Heim. Sie wuchs mit Schläge und Beten auf. Die Tochter wurde Mutter und gebar ein Mädchen. Das Mädchen erhielt keine Liebe und hungerte, denn es war wieder Krieg. Das Mädchen wollte nie ein Kind bekommen, aber es wurde schwanger und gebar ein Mädchen. Das Mädchen ließ das Mädchen verhungern, obwohl es diesmal nicht Krieg war.

Der Pfirsichbaum

Ich war immer ein Pfirsich, mit weicher, samtiger Haut, frischem Fruchtfleisch und darunter meinem Kern.

Ich wurde gekostet und gegessen. Nur in meinem Kern blieb ich bei mir und überlebte.

Nun, nach einem halben Jahrhundert, ist aus dem Kern ein kleiner Trieb gewachsen. Hat sich durch die Nahtstelle geschoben, schickt seine Wurzeln ins Erdreich und wächst heran zu einem Pfirsichbaum.

Das Fruchtfleisch gibt es schon lange nicht mehr, aber der Baum bietet ein ganzes, neues Leben.

Ich bin kein Pfirsich mehr, sondern ein Pfirsichbaum. Ich bin etwas Eigenes geworden. Ich bin nicht mehr Opfer.

Letzte Dinge

„Auf meinem Grabstein soll der Mädchenname meiner Mutter stehen, ich hab mir das überlegt. Kümmerst du dich darum?“

Mutter sitzt mir gegenüber im Bett, die Ärmel der rosa Häkeljacke tief über ihre mageren Finger gezogen, zwei große Kissen im Rücken. Ich liege erschöpft im Sessel ihr gegenüber, lang hingestreckt. Sie wird nur noch wenige Wochen leben, und ich versorge sie seit neun Monaten zu Hause. Die Beerdigung ist eines unserer Themen.
„Was, Anny Füllgraf?“
„Unsinn – Anny Iffland, geb. Füllgraf natürlich. Ich will den Namen meiner Adoptiveltern nicht auf meinem Grabstein haben, sie sollen endlich aufhören eine Bedeutung für mich zu haben.“
„Ja, gut. Papas Name und der deiner Mutter. Das mach’ ich doch gerne.“
Mutter seufzt zufrieden und schließt die Augen, sinkt in einen kleinen Schlaf.

Ihre vielen Namen haben mich in meiner Kindheit sehr beschäftigt. Ihr Mädchenname, der Name ihrer Adoptiveltern, der ihres Mannes und nun der Mädchenname ihrer Mutter. Durch meine Scheidung habe ich auch schon drei Namen angehäuft. Was soll einmal auf meinem Grabstein stehen? An welchen Namen sollen sich die Menschen nach meinem Tod erinnern? Meinen Mädchennamen, den meines ersten Mannes, den meines zweiten Mannes?

Mutter wird wach. Sie hat Durst und greift nach ihrer Lieblingstasse mit dem nun schon kalten Kräutertee, trinkt gierig und hebt dann die Tasse hoch: „Was machst du damit? Bringst du das zu einer Versteigerung? Ist noch vollständig, das Service.“

Villeroy und Boch, Wildrose. Ja, eine gute Idee. Ob ich es haben will? Na, lieber nicht. Nimmst du mir nicht übel? Das ist gut, ich hab ja auch so schon genug Geschirr.
Ich schaue in ihr kleines Schmuckkästchen, wenn wir schon mal dabei sind. „Wo ist denn der Krönchenring, Mama?“
Schweigen. Ich schaue zu ihr, sie guckt weg, ihre Hände zupfen an der Bettdecke. „Da muss ich was beichten. Ich hab ihn deiner Schwägerin geschenkt. Die haben’s doch immer so nötig.“

Ich setze mich und kann sie minutenlang nicht anschauen. Der Krönchenring hatte meiner Schwiegermutter gehört, es war ihr teuerstes Stück gewesen, über und über mit Brillanten bestückt. Nach ihrem Tod hatte ich meinen Mann gefragt, ob ich ihn meiner Mutter leihen könne, damit sie nicht immer nur Modeschmuck beim Tanztee tragen müsste.
„Er war eigentlich nur eine Leihgabe, Mama.“
„Dein Bruder hat gesagt, er sei nichts wert gewesen. Sie haben ihn auf dem Trödelmarkt gegen ein Paperweight eingetauscht.“

Stille und Schweigen. Mein Bruder sammelt Paperweights, sie stehen rund und bunt in einer Glasvitrine, mal Tchiboplunder, mal teure schottische Glasbläserarbeit. Auch erinnere ich mich an die Strickjacke, die ich Mutter vor einigen Jahren zu Weihnachten gestrickt hatte und die sie im Jahr darauf ebenfalls meiner Schwägerin geschenkt hatte. Es sei ihr so kalt gewesen, und sie haben’s doch immer so nötig.

Ich gehe neuen Tee in der Küche kochen, greife ziemlich heftig und laut nach dem Wasserkocher und den Tassen. Ach, Mama. Mit den dampfenden Tassen greifen wir den Beerdigungsfaden wieder auf – der Krönchenring ist erledigt.

Musik? „Ja, gerne. Woran hast du gedacht?“
„Wie wär’s mit der Brieselang-Musik? Hast du schon rausgekriegt, von wem sie eigentlich ist?“
Hab ich, ja, ist Dvoraks „Humoreske“. Wir könnten einen Recorder in der Kirche aufstellen, da wird es aber Tränen geben. Wir wissen beide, warum: Es war Ende des Krieges, im Volksempfänger wurde die „Humoreske“ gespielt, als die russischen Soldaten auf unseren Hof in Brieselang kamen und uns an die Wand stellen wollten. Von da an sprachen wir immer über die Brieselang-Musik.
Es wird Zeit, mich für heute zu verabschieden.
Morgen planen wir weiter. Ich komme nach der Arbeit wieder vorbei und bringe etwas zu essen mit.
„Vergiss nicht, dass ich kein Salz mehr vertrage, davon wird mir übel.“
„Aber ja doch!“

Ich ziehe die Tür hinter mir ins Schloss. Nein, ich will nicht darüber nachdenken, welcher Name auf meinem Grabstein stehen soll. Ich will mir vorstellen, dass mein vollständiger Name noch lange an unserer Haustür steht, dass er auf einem Buch steht, das ich schreiben werde, auf einer Geburtsanzeige, wenn meine Enkelkinder geboren werden. Mein Weg ist noch nicht zu Ende.

Es ist Frühjahr geworden und Mutter hat den Winter überlebt. Zu Weihnachten hatte ich ihr eine Tulpenzwiebel in einem kleinen Blumentopf geschenkt, die Knospe war noch nicht voll ausgetrieben. „Ich verstehe, weshalb du mir das gibst,“ hatte sie gesagt. Aber nun kann sie den Frühling doch noch erleben, wenn auch nur vom Bett aus. Ein Pflegedienst kommt zweimal am Tag und ich einmal. Auch meine Schwägerin war aus München angereist und hatte sie eine Woche lang gepflegt.

Heute ist mein Geburtstag, und ich gehe schon früh zu ihr, noch vor dem Büro.

Als ich die Schlafzimmertür leise aufdrücke, sehe ich sie aufrecht im Bett sitzen, die Beine über der Bettkante, den Rücken zu mir. Sie ist sehr mager und klein geworden, ich kann ihr Rückgrat durch das Nachthemd sehen. Sie macht eine halbe Drehung zu mir und ich sehe, dass sie weint.
„Ach, Rieke, du bist schon da,“ seufzt sie und schaut mich an.
„Mama, was ist denn?“ Ich nehme sie in die Arme.
„Ich habe nichts für dich, es ist doch dein Geburtstag.“
Ich drücke sie: „Aber du hast mir doch mein Leben gegeben, Mama. Heute ist ja auch dein Tag.“

Dann gehe ich in die Küche und hole den Blumenstrauß, den ich dort abgestellt hatte, als ich in die Wohnung gekommen war. Mutter weint immer noch, ihr Gesicht ist dabei bewegungslos und sie schluchzt nicht mehr. Wirft keinen Blick auf die Blumen, auch nicht auf mich, ist nur still bei sich. Nach langen Minuten sagt sie: „Ich schäme mich so. Ich...ich... hab deinen Bruder dir immer vorgezogen. Und jetzt, am Ende, bist du da. Was soll ich bloß tun?“

Ich wiege sie in meinen Armen und streichele ihre Schultern. „Ich hätte keine andere Mutter haben wollen. Du warst meine große Liebe. Es ist alles gut!“ Die bitteren Erinnerungen an ihre Härte, ihre Abweisungen, ihre Bestrafungen sind schon seit einigen Jahren verblasst, und ich muss nun nicht mehr weinen. Ich kann sie still im Arm halten und trösten. Es gibt nur sie und mich in diesen Minuten.
Dann mache ich ihr Bett, während sie sich mühsam in ihrem Ohrensessel in eine Decke kuschelt. Noch kann sie ein paar Schritte gehen, aber bald wird auch das nicht mehr möglich sein. Ich zünde eine Kerze an und bringe einen Teller mit Kranzkuchen und auch eine Tasse frischen Kaffee. Zwei Happen und zwei Schluck, und es ist ihr übel. Dann doch lieber Kartoffelpüree ohne Salz.

Am Abend werde ich noch einmal wiederkommen und die Kinder mitbringen. „Ist dir das recht?“
„Aber ja doch, ich freue mich darauf.“ Sie muss jetzt wieder schlafen. So sammelt sie ihre Kräfte für die baldige Reise. Ich schließe sacht die Tür zu.

Im Treppenhaus treffe ich Christiane, die junge Frau vom Pflegedienst. Sie ist eine ausgebildete Krankenschwester und meiner Mutter sehr zugetan. Ich kann innerlich loslassen und fahre beruhigt in das Büro.

Ein Freitagabend im Juni

Beim Betreten der Wohnung treffe ich Mutters Hausärztin, die auch einen Wohnungsschlüssel hat. Sie erklärt mir, dass meine Mutter im ganzen Körper Wasser hat und sie ihr deshalb keine Spritzen mehr geben kann, weil sie nichts nützten.
„Aber die Tabletten kann sie auch nicht mehr schlucken, sie wird unendliche Schmerzen haben!“ begehre ich auf.

„Ich kann für ihre Mutter nichts mehr tun, es tut mir leid.“

Wir stehen in der Küche, damit Mutter nicht hört, wie wir aneinander geraten. „Was soll das heißen? Gibt’s denn keine Hilfe für einen Patienten, wenn er stirbt!?“

„Was Sie von mir verlangen, ist verboten, ich leiste keine Sterbehilfe!“ Sie packt ihre Tasche und geht, lässt mich stehen, gibt keinen Rat. Mir werden die Knie weich und mein Magen rebelliert. Dann gehe ich in Mutters Schlafzimmer.

Sie liegt still da, und ich beuge mich zu ihr runter, um sie zu küssen und zu verstehen, was sie sagt. Sie muss auf die Toilette und sie hat Hunger.

Ich hebe sie mit aller Kraft auf den Toilettenstuhl neben ihrem Bett. Das Wasser hat sie sehr schwer gemacht, aber ihre Arme sind spindeldürr, ich umfasse mit einer Hand ihr ganzes Handgelenk. Schiebe sie danach in ihr Bett. Nun muss ich sie abputzen. Starre auf den entblößten Unterleib meiner Mutter. Zögere. Sie hat mich damals als Kind gepflegt und gereinigt. Aber sie hat mir auch eine tiefe Scham gegenüber meinem Intimbereich eingeprägt. Und nun starre ich auf den meiner eigenen Mutter. Die Schamhaare sind immer noch dunkel, wie kann das sein, ihr Haupthaar ist doch weiß. Dann tupfe ich sie vorsichtig mit etwas Papier ab. Hier war das Tor in mein Leben, hier betrat ich die Welt. Ich sehe es nun wieder - nach fünfzig Jahren.

Auf den Toilettenstuhl werden wir es nicht noch einmal schaffen, und so lege ich ihr eine dicke Vorlage zwischen die Beine.

Dann gibt es etwas zu essen. Die Gemüsebrühe trinkt sie in kleinen Schlückchen aus der Schnabeltasse. Ich halte sie dabei in einer Sitzposition, weil ihr Bett nicht verstellbar ist. Als sie fertig ist, lehnt sie sich gegen mich und flüstert „Das war gut - noch einmal satt essen.“ Ich verstehe, was sie damit meint und auch, dass sie versteht, dass sie im Sterben liegt. Nicht so, wie in den letzten Monaten, sondern jetzt, heute oder morgen. Da weiß ich, dass nun die Zeit gekommen ist, dass ich zu ihr in die Wohnung ziehen muss, dass der Pflegedienst und meine Besuche nicht mehr ausreichen.

Ich fahre noch einmal nach Hause und packe einen Koffer, regele meine Arbeit und meine Familie und ziehe in Mutters Gästezimmer.

Sonntag

Mein Mann und meine Kinder kommen, und ich kann mich endlich für ein paar Stunden schlafen legen. Mutter hat seit Freitag nichts mehr gesagt, nur ihre Blicke folgen uns, wenn wir uns um sie kümmern. Sie will nicht mehr berührt werden, schiebt meine Hand weg, wenn ich sie streichele.

Gegen Abend sinkt sie in einen komaähnlichen Zustand, die Augen geschlossen, den Mund leicht geöffnet, und sie stöhnt aus tiefster Seele.

Montag

Was soll ich tun? Ich laufe auf und ab, ich suche nach der nie benutzten Bibel, suche meinen eigenen Einsegnungsspruch, den Psalm 23, nur weil ich weiter nichts kenne: „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln“, lese ihn immer wieder für mich und für Mutter. Christiane, die Krankenschwester, wäscht ihr Gesicht und massiert vorsichtig ihre Füße, wechselt ihre Windeln.

Aus Mutters Stöhnen formt sich nun ein Ruf: sie ruft nach ihrem Sohn „Hans-Peter“! Tief und rasselnd einatmen und mit dem austretenden Atem stößt sie „Hans-Peter“ aus, für „Peter“ muss sie noch einmal Luft schöpfen. Stundenlang, mit jedem Atemzug. Es gibt kein Entkommen in der Wohnung, das Rufen ist überall zu hören. Ich rufe meine Schwägerin in München an, sage ihr, dass mein Bruder zu seiner sterbenden Mutter kommen muss. Sie sieht das auch so, doch er will nicht. Aber er muss, und endlich kommt der Anruf mit den Flugdaten. Nun warten wir.

Mein Mann kommt und löst mich ab. Christiane und ich setzen uns in der Küche an den Tisch und spielen Karten, vom Schlafzimmer her tief und rasselnd „Hans-Peter“. Ich denke ‚So ist das, wenn man sich abschotten möchte, weil das Leid nicht mehr zu ertragen ist.’ Aber meine Schilddrüse schmerzt und meine Hände zittern, es ist wohl nicht so weit her mit dem Abschotten.


Dienstag

Es klingelt, Hans-Peter steht vor der Tür. Ich fliege ihm um den Hals, endlich ist er da, mein großer Bruder! Habe ich nicht mein ganzes Leben lang auf ihn gewartet? Mutters Ruf ist leiser geworden, ihr Sohn setzt sich neben sie, hält ihre Hand. Erkennt sie ihn? Ich bin mir sicher, dass sie weiß, dass er bei ihr ist. Ihr heiß geliebter Sohn und sie, meine heiß geliebte Mutter. Ich schlafe auf dem Sessel neben Mutters Bett ein.

„Wie kannst du neben deiner sterbenden Mutter schlafen?“ will Hans-Peter wissen.

„Nach zwei Nächten ohne Schlaf, kann man das.“


Mittwoch


Wir warten darauf, dass Mutter ruhiger wird, dass sie loslassen kann, vom Leben in den Tod hinüber gleitet. Aber ihr Gesicht ist schmerzverzerrt, sie stöhnt immer noch. Die Hilflosigkeit schwappt wie eine Welle über mir zusammen. Ich brauche Hilfe, Mutter braucht Hilfe! Aus meiner Hilflosigkeit erwachsen Wut und Kraft, sie steigen heiß in mir auf. Ich beginne zu schreien und Christiane und Hans-Peter schauen mich stumm an. Dann endlich fällt mir eine Ärztin ein, die ich vor einem Jahr mit meiner Mutter aufgesucht hatte und die damals bei mir den Eindruck erweckt hatte, sie würde helfen können, wenn es „soweit ist“. Es ist schon seit Tagen so weit.

Ich schreie in das Telefon: „Meine Mutter kann nicht sterben, sie quält sich! Und ich kann nicht mehr, ich bin am Ende. Bitte kommen Sie!“ Die Ärztin sagt nur zwei Worte: „Ich komme.“ Ich werde etwas ruhiger und stecke den Zettel mit dem Namen und der Telefonnummer sorgsam in mein Portemonnaie.

Dann stehe ich auf dem Balkon, schaue auf die Strasse und warte auf die Ärztin, rauche eine Zigarette. Die Sonne scheint, draußen fährt die S-Bahn rumpelnd vorbei, es spielen Kinder vor der Haustür. Und endlich sehe ich sie auf das Haus zukommen. Sie trägt einen weiten Rock, der beim Gehen schwingt, am Arm ein Bastkörbchen, darin liegt etwas, das mit einem Küchenhandtuch abgedeckt ist.

Als sie in das Schlafzimmer kommt, sagt sie „Ach, Sie haben es schön gemacht, mit der Kerze am Bett.“ Sie hat eine fränkische Aussprache, die mir gut tut, warum, weiß ich nicht. Sie zieht eine Spritze mit Morphium auf und setzt sie an, an welchem Körperteil kann ich nicht sehen. Innerhalb einer viertel Stunde wird Mutters Stöhnen leiser, entspannen sich ihre Gesichtszüge. Die Ärztin wartet mit uns und hört dann ihre Herztöne ab, fühlt den Puls und sagt uns, dass Mutter uns nun verlassen hat.

Ich breche weinend an ihrem Bett zusammen, Christiane bringt mir meine Schilddrüsentropfen. Jetzt muss ich den Weg wieder in mein Leben zurück finden. Ohne meine Mutter, deren Stimme ich nur noch in mir drinnen hören werde. Ein langer Abschiedsschmerz liegt vor mir, aber er ist ohne Bitterkeit, ohne Vorwürfe über verpasste Chancen. Übrig bleibt das Unfassbare, dass Menschen, die wir lieben, unwiderruflich uns verlassen und die Erkenntnis, dass ich das nie wirklich verstehen werde.

Frau W.

"Probieren Sie ruhig ein Löffelchen vom Kaviar", sagte Frau W. und reichte Marie-Luise die dunkle, kleine Dose mit Löffel und Unterteller. "Sie sehen so aus als könnten Sie das jetzt brauchen."



Marie-Luise saß erschöpft in ihrem Trainingsanzug auf der Bettkante, eine schlanke Zwanzigjährige mit rot-braunen Haaren. Nach der morgendlichen Gymnastik war sie gleich zu ihrer Therapiestunde nach oben gegangen, und ihr Frühstück stand noch unberührt auf dem Tisch am Fenster. "Mir steht alles vor dem Magen, es ist lieb von Ihnen, ich weiß nicht, Kaviar... vielleicht lieber Kaffee. Kaviar hab ich noch nie probiert."



"Mein Mann kann uns wieder neuen mitbringen, nehmen Sie ruhig." ermunterte Frau W. sie wieder. 

Sie war um die Fünfzig, und der Kaviarbringer war ihr zweiter Ehemann, das wusste Marie-Luise schon. Auch von ihrer Platzangst hatte sie ihr erzählt. "Agoraphobie nennt man das", hatte sie erklärt. "Ich kann das Haus nicht verlassen. Wenn ich rausgehe, dann kommt mir das Pflaster in Wellen entgegen. Ich übe und übe, ziehe mich am Zaun entlang, um vorwärts zu kommen."



Wie in einem Alptraum hatte Marie-Luise gedacht und sich fürsorglich um sie gekümmert. Sie hätte ihre Mutter sein können.

Beide waren in der zweiten Klasse in dieser Klinik für psychosomatische Störungen untergebracht. Während in der dritten Klasse fünf bis sechs Betten in einem Raum waren, teilten sie sich zu zweit ein Zimmer. Außer ihren Betten gab es nur noch zwei schmale Schränke und eine Sitzecke mit Tisch am Fenster. Über Frau W.’s Bett hing ein Bild, auf dem ein einsamer Ruderer auf einem See in den Sonnenuntergang ruderte. Am ersten Abend ihrer Bekanntschaft hatte Frau W. auf die Ärztin gewartet und wollte deshalb nicht das Zimmer verlassen, um sie nicht zu verpassen. Marie-Luise hatte gesagt: "Wieso, wenn jemand nach ihnen fragt, dann sag ich einfach: Na da ist sie doch, sehen Sie nicht, wie sie da fort rudert?" Als ihnen das Mittagessen nicht schmeckte sagte Frau W.: „Kippen wir’s einfach in den See!" Oder Marie-Luise sagte: "Ich dreh jetzt mal kurz eine Runde im Boot" wenn sie die Nase voll hatte vom Klinikbetrieb.

Marie-Luise hatte ihre Ängste und Alpträume in die Therapiestunde getragen und Frau W. nur von ihrem Selbstmordversuch erzählt. Es fiel ihr schwer, sich anderen Menschen anzuvertrauen. Die meisten Menschen hielten sie für viel zu erdgebunden und optimistisch, um überhaupt Probleme zu haben.

 Wie sollte sie ihr davon erzählen können, dass sie jahrelang über KZs Alpträume gehabt hatte? Dass sie ihren "Fiebertraum" bekam, wenn sie von den Gräueltaten der Nazis hörte? Und dann die Geschichte von Onkel Hans, Mutters Bruder, der von der Gestapo verhaftet wurde, weil er den Zeugen Jehovas angehörte. 

All die grässlichen Bilder in ihrem Kopf. Und das Geräusch von dem Aufschlagen seines Kopfes! Onkel Hans, von der Gestapo an den Füßen die Treppe runtergezogen, der Kopf schlug bei jeder Stufe auf. Seine Ehefrau soll dies lustig gefunden haben, als sie davon hörte. 
Und ihre eigenen Assoziationen, wenn sie schaukelnde, quietschende Hoflaternen sah in Fabrikhöfen, an einsamen Grenzübergängen, die durch Gelesenes, Gehörtes und nie Verarbeitetes sich in endlose, freie Appellhöfe verwandelten. Lautsprecheransagen, die über den Platz hallen. "NN" braucht noch Menschen für den nächsten Transport. Sie laufen zusammen, frierend und zitternd. In dünnen, gestreiften Anzügen, darunter Zeitungspapier gegen die Kälte. "Nacht & Nebel" sammelt sie für den Transport nach Auschwitz ein. Sie suchen in den Baracken, im Hospital, im kleinen und im großen Lager. 

Aber hier in Berlin- Grunewald, in ihrem warmen Zimmer ist Frau W. da, die Marie-Luise aus ihrem Leben erzählt, einem guten Leben, wie sie sagt: "Wissen Sie, ich kann nicht klagen. Ich hatte fünfundzwanzig gute Jahre. Ich habe damals, 1945, eine Hypnosetherapie machen lassen. So konnte ich alles vergessen. Aber seit einigen Jahren ist alles wieder da, und ich habe diese Platzangst."


"1945?" fragt Marie-Luise. "Was passierte denn damals, oder fällt es Ihnen schwer, darüber zu reden?"


"Ich habe es nicht ertragen, als ich meinen ersten Mann in flagranti erwischte. Er war meine große Liebe. Ich kam dazu, wie er seine Assistentin küsste. Und dabei waren wir so glücklich damals. Er war Arzt und hatte die Chance seines Lebens in der Forschung zu arbeiten.

Man hatte damals alle Ärzte angeschrieben und ihnen gut bezahlte Posten in den Lagern geboten. Na, Sie wissen ja vielleicht was ich meine. Wir waren so jung. Aber ich habe es einfach nicht ertragen, dass er mit einer anderen Frau....ich war schon immer sehr eifersüchtig, er sah so gut aus in seinem weißen Kittel. Und heute nun ist alles wieder da - diese andere Frau und die Erinnerung an ihn."


"Er war Arzt in einem Lager?" 
Marie-Luise hatte einen Kloß im Hals.

"Ja, nun regen Sie sich nicht auf! Nach 45 haben uns die Amerikaner gezwungen diesen Film anzugucken. Wir waren in Heidelberg und alle mussten ihn sich ansehen. Stellen Sie sich das vor! Wie hieß er noch?"


"Die Tretmühlen des Todes?"


"Ja, so ähnlich hieß er."

Durch die Beobachtungsbullaugen in den Gaskammern aufgenommen. Schaufelbagger, die Ordnung schaffen. 

Die beiden Frauen starren sich an. Frau W. greift nach der Zeitschrift auf Marie-Louises Nachttisch: "Glauben Sie, dass mir das hier gefällt?" 

Es ist die Konkret.
"Lauter linke Parolen! Wollen Sie unsere deutschen Werte in den Schmutz ziehen?!"

Marie-Luise stürzte sich auf Frau W. und schlug in wilder Verzweiflung auf sie ein.

 Das Schreien der beiden Frauen ließ die Schwestern hereinstürzen. Sie wurden getrennt, Frau W. in einem anderen Zimmer einquartiert, der Kaviar hinterher getragen. Marie-Luise war allein und bekam eine Tablette.



Vor dem Klinikfenster fiel nadelzart Schnee. Ein endlos weißes Feld in der Dunkelheit. Schwankende Hofbeleuchtung. Kleine, schwarze Punkte liefen zusammen. Sammelten sich für den Transport.

Dann tat die Valium 10 ihre Wirkung.

Randy Newman

Ein Geschenk des Himmels

Warmes, tiefes Dunkel im Saal, nur ein Spot auf den Flügel. Er kommt in den Lichtkegel, Applaus brandet auf, Jubelrufe, Blitzlichter. Verbeugt sich kurz, sieht zerknittert und müde aus, seine Haare sind schlohweiß. Er ist alt geworden, und ich liebe ihn so! Setzt sich an den Flügel und legt sofort los mit „It’s money that I love!“ Nur er am Flügel, kein Orchester. Wie damals, 1980 in London und 1987 in der Philharmonie in Berlin. Ein halbes Leben lang diese kratzige, warme Stimme in meinem Ohr und seine mal lyrischen, mal bitteren Texte in meinem Herzen. „And I will always love you, Marie“ treibt mir die Tränen in die Augen. Diesmal ist es sein einziges Konzert in Deutschland. Nur kurz eingeflogen, Auftritt im Admiralspalast in der Friedrichstraße. Zugabe, Zugabe! Kein Interview danach.
Randy Newman, Oscar Preisträger mit siebzehn weiteren Nominierungen. Jedes Wort seiner Texte ist auch meines und wird für immer bei mir bleiben.

Die Redelsheimer

Ein Ehepaar kauft eine alte Villa, die sie sich eigentlich nicht leisten können. Das Haus ist vollständig eingemüllt, es muss saniert werden, und die Berliner Mauer hat auf dem Grund-stück einen tiefen Einschnitt hinterlassen. Hinter eine Scheuerleiste ist ein Foto gerutscht: Wer ist diese junge Frau? Das Buch beschreibt die aufwändige Suche nach der ersten und dritten Generation der Holocaustopfer und führt immer wieder in das Leben der jüdischen Familie Redelsheimer vor dem Krieg. Es ist eine Liebeserklärung an ein Haus, an Sacrow, einen kleinen Ort bei Berlin, eine ermordete Familie und deren Nachkommen. Im dokumentarischen Anhang werden die Stationen des Lebens von Elsa und Paul Redelsheimer, den Erbauern dieses Hauses, aufgelistet. Ihnen ist dieses Buch gewidmet.

Der Taubenschlag

TAUBENSCHLAG

Die Tauben fliegen einen spiralförmigen Kreis über das Haus. Ich höre ihren Flügelschlag und spüre die Energie, die sie mir senden.

Ich knie vor dem Mann, der auf dem Sofa sitzt und seine Augen geschlossen hält. Meine Hände gleiten über seinen Körper, ohne ihn zu berühren. Fühle die Hitze, die Kälte, das Nachlassen der Energie dieses Menschen. Meine Hände ziehen seine Krankheiten aus seinem Körper. Es ist stickig und heiß im Zimmer, und schon während der Mann sich erhebt, nach seiner Brieftasche greift und mich anspricht, mache ich das Fenster weit auf und atme die frische Luft tief ein.
„Nein, keinen Namen, bitte! Auch mein Name spielt keine Rolle! Geld? Auch das nicht!“
Er legt mir einen kleinen Umschlag auf den Schreibtisch, gleich neben die Kerzen und die Heiligenbilder.
„Dzienkuje, pan!“
Wir nicken uns zu, und ich habe ein paar Minuten für mich allein. Ich lege den Umschlag mit den Sloty in eine Schublade und rücke das Schild auf dem Schreibtisch gerade – es erklärt, dass ich kein Geld nehmen darf und dass das Finanzamt nun Quittungen für Einkünfte verlangt und dass die Regierung in Warschau Heilertätigkeiten untersagt.

Was kann ich den Menschen sagen, die zu mir kommen? Sie wollen doch auch ihre Dankbarkeit zeigen, wenn ich ihnen helfe. Warum verstehen die Behörden das nicht? Ich kann ihnen nur sagen, dass sie etwas spenden können, wenn sie wollen – wie viel überlasse ich ihnen. Vor dem Haus stehen ein halbes Dutzend Autos, sie kommen auch von weit her seitdem wir zur EU gehören. Ich kenne viele der Wartenden, zum Beispiel diese Eltern mit ihrem Sohn, der sich nur an Krücken vorwärts bewegen kann und diese junge Frau da, auf der Bank vor dem Haus. Sie möchte schwanger werden und kann nicht empfangen. Sie alle rufen einen Tag vorher an, und meine Mutter vereinbart Termine mit ihnen.
„Ja, kommen Sie zwischen 9.00 und 11.00 Uhr.“
11.00 Uhr ist mein spätester Termin, danach bin ich erschöpft und brauche meine Ruhe. Mutter, Tante Ewunia und ich essen gemeinsam zu Mittag – hinter dem Haus, auf dem Hof. Da sehen uns nur die Tiere - meine Tauben und die Hunde. Nun, wo Sie wissen, wie meine Tante heißt, sage ich Ihnen auch meinen Namen: Jannek Koslowski. Wir wohnen in Nowe Miasteczko, einem kleinen Dorf nahe Gubin in der Woiwodschaft Dolnoslaskie. Ganz in der Nähe ist auch der Grenzübergang nach Guben in Deutschland.

Unser Dorf ist arm; es gibt kaum Arbeit, auch keine richtigen Geschäfte. Nur Kasimirs rollenden Wurst- und Fleischwagen zweimal die Woche. Ohne Auto geht hier gar nichts! Ja, ich habe jetzt ein Auto und parke das immer auf dem Hof, hinter dem hohen Tor. Ich bin auch schon drüben gewesen, mehrfach, weil ich öfter meine Cousine in Frankfurt vom Zug abhole. Sie ist während der Woche zum Putzen in Berlin und kommt erst am Wochenende nach hause.
Und ich war auch in der Nacht zum 1. Mai 2004 auf der Brücke über die Oder in Frankfurt, das heißt natürlich zuerst in Slubice, auf unserer Seite. Wir waren alle da, als das Feuerwerk losging. Soviel Geld wurde da in den Himmel geschossen! Aber es war schön, und die Stadt Frankfurt hat mir sehr gefallen. Ein Jahr danach bin ich dann auch nach Berlin gefahren und habe meine Cousine besucht. Berlin war unglaublich, ich wusste nicht, wohin ich zuerst gucken sollte! Aber wer will eigentlich hunderte von Wurstsorten, hunderte von Hemden und Hosen zum Aussuchen? Ich habe die Rückfahrt nach Nowe Miasteczko genossen. Vorbei an den Sonnenblumenfeldern und den Wäldern um unser Dorf. Es gibt noch Wölfe und Luchse in der Gegend, und ich liebe die Landschaft. Aber ich weiß nun auch, dass unser Dorf schäbig aussieht. Niemand hat Geld für die Fassade oder für neue Fenster. Nur bei mir tut sich was; ich hab das Dach neu gedeckt und eine Ölheizung eingebaut. Die Nachbarn werfen mir scheele Blicke zu, obwohl ich doch allen helfe, wenn sie Probleme haben. Auch meinen Nachbarn, nicht nur den Menschen, die von weither kommen.

Es kamen auch Deutsche zu mir ins Haus. Nein, nicht die Deutschen, die schon seit vielen Jahren hier leben. Ich meine die richtigen Deutschen, die, die kein Polnisch sprechen. Manche bemühen sich aber und sagen freundlich „Dziendobry“ wenn sie kommen. Und ich habe ein paar Wörter Deutsch gelernt: „Schmerz muss weg!“ oder „Schlafen, muss mehr schlafen!“ Da weiß ich dann, dass sie schon auf der Heimfahrt einschlafen und jemand anderes fahren muss – meine Energie wirkt schnell!

Abends bin ich allein in meinem Haus. Mutter und Ewunia wohnen nebenan, sie kommen nur tagsüber, um mir den Haushalt abzunehmen. Ich schlafe oben, unter dem Dach, am Fenster im Giebel, nahe am Taubenschlag. Die Tauben ziehen ihre Kreise, ihr Flügelschlag kühlt mein Gesicht. Ich liege ganz still und bete, bis ich mich ruhig und gestärkt fühle.

Erinnerungen einer Strandpinie

Hier im Gewächshaus überlebe ich. In einem Schuhkarton.

Im Draußenleben werden wir dreißig Meter hoch, unter unserer schattigen Krone finden Menschen Schutz vor heißer Sonne und prasselndem Regen.
Die Liebespaare drängen ihre Körper gegen unsere Stämme. Ich weiß das alles, ich habe das alles erlebt, gefühlt, gehört und gerochen.

Jetzt aber bin ich im Schuhkarton. Klein, hart und dunkel. In mir sind alle
Generationen Strandpinien dieser Welt. Eines Tages wird der Deckel gelüpft, werde ich in weiches Wasser gelegt, in feuchte Erde gesteckt,
und es beginnt alles wieder von vorne.

Jetzt aber bin ich im Schuhkarton. Er ist rot, "Benneton, United Colours"
und steht in einem Regal ganz hinten im Gewächshaus. Das Dunkel hüllt mich ein. Aber es gibt nichts, das ich nicht weiß, höre und fühle. Die
Palmen über mir, die lachenden Menschen, die sich darunter setzen.

Meine Zeit kommt noch.

Freitag, 27. August 2010

Der Birkenbär

Ein schneeweißer Birkenbär saß lange Jahre unauffällig in seiner Birke, so wie es viele Birkenbären im ganzen Land tun. Im Sommer schmiegte er sich eng an den Stamm und die Äste, im so genannten Birkensommerschlaf. Im Winter, wenn Schnee gefallen war, konnte er sich freier zwischen den kahlen, weißen Zweigen bewegen. Seine dunklen Augen wurden von den uneingeweihten Menschen für Birkenflecken gehalten.

Eingeweihte Menschen sind die, die verkehrt herum sehen können. Und für sie war der Bär in der Birke. Er diente der Schärfung ihrer Sinne, in dem er in immer neuen Stellungen zwischen dem Blattwerk und den Ästen herumturnte. Hatten sie ihn erspäht, waren die Eingeweihten beglückt, denn Verstecktes zu erkennen, bedeutete, einen Blick für das Wahre und Schöne zu haben. Und dies wiederum machte sie zu etwas besonderem gegenüber den uneingeweihten Menschen, die sich mit solchen mentalen Übungen nicht abgaben.

Seine Birke war irgendwann einmal beschnitten worden, damit sie nicht zu groß werden konnte. Die uneingeweihten Menschen hatten befürchtet, ihre Äste könnten das Dach ihres Hauses beschädigen. Und ihr herunterfallendes Laub machte ihnen zu viel Arbeit. Aus den Schnittstellen heraus wuchsen die Zweige in neue Richtungen, gaben der Birke ihr besonderes Aussehen. Sie wurde eine schöne, ungewöhnliche Birke, mit vielen Biegungen und Astgabeln, auf denen man gut schlafen konnte.

Ein Birkenbär ernährt sich von Erdbeeren und Fischen. So ist es von der Natur angedacht. Wenn sie als philosophisches Vexierbild in der Birke gearbeitet haben, steigen sie selbstbewusst herunter und begeben sich in die Erdbeerbeete und an die Seen zum Fischen. Das ist ihr Werdegang.

Dieser Bär aber hatte nicht den Mut, sich zu zeigen. Er kam nur seinen Vexierbildpflichten auf dem Baum nach und nahm sich nicht den ihm zustehenden Lohn. So musste er sich seine kärglichen Mahlzeiten aus der Mülltonne fischen, die direkt unter der Birke stand. Er tat dies meist nachts, damit ihn niemand sah. Manchmal klapperte er dabei mit dem Deckel und weckte die Menschen auf. Wenn sie misstrauisch angelaufen kamen und mit einer Taschenlampe alles ausleuchteten, hatten sie auch schon das eine oder andere mal in die Birke hoch geleuchtet, ihn aber nicht gesehen, weil er eng an den Stamm geschmiegt war. "Diese Birke ist so komisch dick" brummelten die Menschen, "aber immer an verschiedenen Stellen!" Sie wurde ihnen unheimlich.

Der Birkenbär selbst aber war natürlich nicht dick, es sah nur so aus. Er war sogar dünn, weil er immer hungrig nach Erdebeeren und Fischen war. Hunger und Sehnsucht verzehrten ihn fast. Er träumte davon, sich vorsichtig mit seinen großen Tapsen durch die taufrischen Erdbeeren zu bewegen, so gegen 5 Uhr früh, wenn die Sonne aufgeht und noch kein Mensch sich am Mülleimer oder im Garten zu schaffen macht.

Ja, er konnte die Süße der Erdbeeren fast schmecken, während er so in seiner Birke lag. Und da konnte es passieren, dass es aus seinem Maul tropfte und unter dem Baum die Briefträgerin traf, die unglücklicherweise diesen Briefkasten neben dem Mülleimer zu bedienen hatte. "IIHH!" schrie sie dann und konnte sich diese nassen Tropfen nicht erklären.

Aber noch schöner waren seine Träume von den Fischen! Er würde mit ihnen im klaren, kühlen Wasser schwimmen, sich auf den Rücken sühlen, sich ganz lang ausstrecken und dabei einfach nach dem einen oder anderen Fisch schnappen! Dafür war er geboren!

Was ihn davon abhielt, von seiner Birke herunter zu kommen, war schlicht und einfach die Angst! Denn der Baum bot ihm Schutz, der Mülleimer ernährte ihn, und dann gab es ja noch die Eingeweihten, die wussten, dass es landauf landab Birkenbären gab. Nicht viele, natürlich, deshalb umso wertvoller.

In seiner Jugend hatte er die Eingeweihten zuerst kennengelernt. Sie standen vor seiner Birke und starrten unbeweglich ins Blattwerk. Sie übten sich im Verkehrtherumsehen, das heißt, sie konnten sich mit ihren Blicken und Gedanken in die Birke begeben und vom Birkenbären aus die Welt sehen und sich selbst so sehen, wie die anderen sie sahen. Die normalen Menschen aber konnten ihre Blickrichtung und ihren Standpunkt nie verlassen. Sie wussten nichts von den Birkenbären, denn sie wären nur ein öffentliches Ärgernis für sie. Sie würden fürchten, dass sie ihre Briefkästen, ihre Mülltonnen beschmutzten oder gar ihre Autos zerkratzten!

Das wusste unser Birkenbär, denn er selbst hatte keine Mühe sich in die Köpfe der normalen Menschen zu denken. Er sah dann ihre Bilder von Bären im Zoo, hinter Gittern, Tanzbären im Zirkus, mit Ringen durch die Nase, ohne Zähne und Krallen, von Kragenbären in Käfigen in China, ihre Galle angezapft und so dem Tode geweiht. Er sah auch Hunde, die in Kellerräume eingesperrt waren und nie das Tageslicht sahen und andere, die an Ketten gelegt waren und sich die Seele aus dem Leib bellten. Er wusste nicht, wie er je von seinem Baum kommen konnte, ohne sein Leben zu gefährden! Wie schafften das nur andere Birkenbären?

So tröstete er sich jahrelang mit den liebevollen Bemerkungen der Eingeweihten. Sie gingen unter seiner Birke vorbei, und wenn niemand in ihrer Nähe war, flüsterten sie freundliche Worte zu ihm hoch: "Träum schön von den Erdbeeren!" und "Heute habe ich die Fische im See springen sehen!" und manchmal schoben sie ihm auch einen richtigen Fisch nach oben in die Astgabel oder auch eine handvoll Erdbeeren.

Als der Birkenbär sich entschloss, doch vom Baum herunterzusteigen, war es wieder die Briefträgerin, die den ersten Kontakt mit ihm hatte. Sein Bein hing herunter, warm und weich, die Krallen aber ausgestreckt, Halt suchend. Die streiften die Briefträgerin, die sie für trockene Zweige hielt und von sich weg schob. Das beendete seinen Abstieg für diesen Tag.

Er sah, wie die Menschen sich plagten, es war alles zu viel für sie! Ihre Arbeit war ihnen zu viel, die Pflanzen im Garten empfanden sie als unverschämt, weil sie gewässert, beschnitten und gedüngt werden wollten, und wenn sie sich tatsächlich diese Arbeit machten und eine Pflanze trotzdem einging, weil sie vielleicht den falschen Standort hatte, dann waren sie empört: "Dieses undankbare Grünzeug! Was soll ich denn noch alles tun?!" Und sie warfen die verstorbene Pflanze in die Mülltonne und kauften eine neue. So dachte er sich, er könne sich vielleicht nützlich machen, ihnen helfen und gleichzeitig seine Birke in besseres Licht rücken. Und wenn sie dann erfuhren, dass er all die geplanten guten Taten begangen hatte, würden sie ihn nicht unweigerlich lieben? Und ihm nichts tun?

Am nächsten Morgen rutschte er wieder wagemutig den Stamm runter, bis auf die Erde. Seine Beine waren etwas schwach, und er musste sich am Baum festhalten. Just in diesem Moment kam ein Mensch mit einem vollen Mülleimer! Der Birkenbär stand hinter der Birke, hielt sie umschlungen, und nur seine langen Krallen waren von vorne zu sehen. Als der Mensch nach dem Mülleimerdeckel griff, um ihn hochzuheben, hatte der Birkenbär diese Arbeit schon übernommen und von hinten angehoben. Der Mensch war verblüfft, schaute hinter den Deckel, sah aber keine Erklärung und freute sich, dass das Anheben so leicht gegangen war. Der Bär aber kicherte lautlos in sich hinein.

Das Wässern der Birke war bei den Menschen auch unbeliebt und bot ihm wieder Gelegenheit, sich nützlich zu machen. Wenn der Mensch mit dem Schlauch anrückte, sah er zu seiner Verwunderung, dass unter der Birke schon satt gewässert worden war. Dann begann er den Briefkasten zu putzen. Er machte sein weiches Fell nass und rieb sich am Kasten, bis dieser blitzblank war. Der Mensch war sprachlos, aber auch fest entschlossen nichts zu hinterfragen. Im Laufe der Zeit übernahm der Birkenbär das Wässern des gesamten Gartens und auch das Harken der Wege. Für letzteres benutze er seine langen Krallen. Nacht für Nacht ackerte er gebückt auf den Wegen rum, wässerte und putzte den Briefkasten, den Zaun, das Garagentor. Tagsüber war er unendlich müde und schlief einen unruhigen Schlaf in seiner Astgabel. Gestört von Lärm und Getöse und dummem Geschwätz: "Bei uns sind die Heinzelmännchen zugange! Ich brauche im Garten nicht mehr zu wässern und mein Mülleimerdeckel geht automatisch auf!"

Als die Eingeweihten mitbekamen, was hier los war, missbilligten sie den Einsatz des Birkenbärens sehr! "Wo er doch so etwas besonderes ist sollte er sich nicht an die Normalmenschen ranschmeißen! " flüsterten sie im Vorübergehen. Er sollte eben nur von ihnen als mentales Vexierbild betrachtet werden. Wenn alle ihn sähen, wäre das Schöne und Wahre im Leben zu Allge-meingut verkommen!

Das hatte er nun davon! Viel Arbeit, wenig Schlaf und den Verlust der Achtung seiner einzigen Verbündeten. Die nächtliche Mühe hatte ihn noch nicht einmal in den Genuss der Erdbeeren gebracht. Zwar gab es ein Beet im Garten, vom Birkenbären liebevoll gewässert, die roten Früchte auf Stroh gebettet, aber er hatte es nicht ein einziges Mal gewagt zu naschen. So schaute er weiter sehnsüchtig nach den Erdbeeren und musste erkennen, dass all die Plackerei zum Wohle der Menschen ihm den ersehnten Weg in die Freiheit nicht gebracht hatte. Er saß weiterhin auf seiner Birke und träumte davon, am hellerlichten Tag herabzusteigen, sich zu zeigen, ohne dass ihm der Zoo, der Zirkus oder die Kragenbärenfarm drohte. Und er träumte davon, dass die Menschen sich über ihn freuen würden. Stattdessen hatte er die Nacht zum Tag gemacht und den Menschen Wohltaten erwiesen, ohne dass sie von seiner Existenz überhaupt wussten. Nur seine Muskeln waren kräftiger geworden, seine Krallen stärker und auch sein Mut hatte zugenommen. Das war vielleicht ein Anfang.

Eines Tages erschien ein pelziger Vierbeiner auf seiner Birke. Er war viel kleiner als er selbst, höchstens so groß wie zwei seiner Pranken. Er sprang elegant und leichtfüßig von Ast zu Ast und setzte sich dann manierlich zu ihm in die Astgabel, den Schwanz sorgfältig um seine Vorderpfoten gewickelt. "Guten Tag, ich bin Mio Mio, die neue Katze. Und wer bist du?" fragte sie neugierig. "Ich bin der Birkenbär und einen Namen habe ich nicht" erwiderte er.
"Ach?!" meinte Mio Mio etwas spitzmäulig und leckte sich einmal kurz über ihren Latz. "Kann man ohne Namen leben und wer ist man, wenn man keinen Namen hat?"

Darauf wusste er keine Antwort, und so wurde dies ein sehr kurzes Gespräch. Die Philosophie des Birkenbären bestand in seiner Vexierbildexistenz, sie war rein körperlich. Ein Gespräch über Philosophie war ihm unmöglich. Von da an sah der Birkenbär Mio Mio öfter unter seiner Birke. So saß sie auf der Terrasse des Hauses ganz in der Nähe, und er sah, wie die Menschen sie bedienten. Sie stellten ihr Teller mit Häppchen vor die Nase, gossen frisches Wasser in ihren Wassernapf und boten ihr weiche Kissen im Schatten der Markise.

Wenn der Birkenbär an den äußersten Rand seiner Birke kletterte konnte er sogar in das Schlafzimmer der Menschen schauen, und er traute seinen Augen nicht! Die Katze lag mitten im Federbett und schlief! Da kam ein Mensch zur Tür herein. "Mio Mio!" schrie der Birkenbär, "Schnell, rette dich!" Die Katze im Federbett hörte ihn wohl, aber machte nicht einmal Anstalten den Kopf zum Fenster zu drehen. Der Mensch stand vor dem Bett und versuchte nun, sich selber unter das Federbett zu schieben. Da hob Mio Mio die Pfote und fauchte leicht. Und der Mensch verzog sich respektvoll und überließ der Katze das Bett. Der Birkenbär war erschüttert!

In dieser Nacht stellte er seine Gartenarbeit ein und wälzte sich schlaflos auf seinem Baum hin und her. Ging man so mit den normalen Menschen um? Würden sie ihn auch lieben, wenn er die Pfote hob? Und warum hatte er keinen Namen? Mio Mio hatte ihm "Rupert" vorgeschlagen, das würde seiner großen Statur Gewicht verleihen. Er übte und flüsterte leise „Ruupert“, um zu lauschen, wie es sich anhörte und war damit zufrieden.

Als der Morgen kam hatte er sich auf Hochglanz gebürstet und gestriegelt. Er stand kerzengerade am Mülleimer als der erste Mensch erschien. Galant hob er den Mülleimerdeckel mit einer Kralle hoch und sagte mit klarer Stimme "Ich bin Rupert, der Birkenbär und werde nun zum See aufbrechen, um zu baden und Fische zu fangen. Dann komme ich wieder und möchte frische Erdbeeren essen. Und wenn ich danach schlafen gehe, darf ich nicht gestört werden!"
Der Mensch erschrak als er den zwei Meter großen Bären sah und hörte. Ein Schlag mit seiner Tatze würde ihn auslöschen! Und er eilte in seine Küche, um für die Rückkehr des Birkenbären Erdbeeren bereit zu stellen. Welche Ehre es war, so einem großen und schönen Tier zu Diensten sein zu können!
Rupert aber schritt erhobenen Hauptes von dannen, in eine selbstbestimmte Bärenzukunft. Es musste noch mehr im Leben erkundet werden, als nur Vexierbilder, Erdbeeren und frische Fische! Er war bereit für weitere Freuden.