Donnerstag, 16. September 2010

Gedichte

Kreisgedicht:


Mein Netz,

gewebt aus Gelassenheit, Mut, Weisheit, Liebe, Nähe, Distanz, Zorn, Trauer, Beharrlichkeit, Geduld, Selbständigkeit, Ungehorsam, Freude, Unantastbarkeit.  All dies behütet mich und ist

mein Netz.

Gedichte



                                          Anfangen
                                      
                                       Aber        wie ?

                                    Immer wieder neu -

                                  Mitten drin im Leben -

                                             Heute!

Gedichte


Schubläden voller
Zügellosigkeit und Lust.

Eingesperrt in  dunkle
Mahagoniefächer,
auf Papier und Ton.

Gleiten leicht und sanft,
hin und her.

Sind offen,
aber unerreichbar.

Für kein Geld zu kaufen.

Unterwegs


Ich verstehe immer weniger
je länger ich lebe.

Reicht es, immer auf dem
richtigen Weg zu sein?
Ohne jemals anzukommen?

Gibt es nichts Bleibendes
außer der Veränderung?

Was will ich mir am Ende
meines Weges sagen?

Ich war auf der Suche
nach mir
und nach Dir
und manchmal
waren wir uns sehr nah.

Dienstag, 14. September 2010

Watson and Holmes


Dies ist eine Twitter-Fortsetzungsgeschichte. Sie wurde im August 2010 bei Twitter veröffentlicht. Jeder Tweet hatte 140 Zeichen und wurde hier nur unwesentlich verändert.


Ein kalter Nachtwind pfiff durch die Baker Street in London. Watson stand auf der Straße: Er hatte Mist gebaut und Holmes ihn entlassen.

Ach, hätte er nur seinen Mund gehalten! Nun war er ohne Arbeit, aber  er war froh, dass er sein warmes Latexhöschen trug.

Nach viel Zähneklappern und Zittern geschah das Wunder: Holmes öffnete die Tür, und Watson fiel beglückt auf die Knie. Er wurde wieder gebraucht!

Holmes klopfte seine dicke Pfeife an Watsons Kopf aus. „Der Aschenbecher ist voll, Watson. Wollen wir jetzt den Pudel der Lady Throttlemore suchen?“

Aber zuerst das Frühstück, dann die Arbeit. Holmes im karierten Morgenrock. Die Strapse darunter blitzten auf. „More eggs, Watson?“

Poached eggs, fried eggs, scrambled eggs, boiled eggs und kein Ende abzusehen bei der Qual der Wahl.

Sie fanden Lady Throttlemores Pudel in deren Waschmaschine. Watson schluchzte. Aber Holmes meinte kühl:

„Ersticken Sie bloß nicht an Ihren Emotionen, Watson!“  Er klopfte seine Pfeife an Watsons Kopf aus.

Watson ärgerte sich über Holmes. Er fand ihn kleinkariert in seinem Schottenröckchen und den Great Balls of Fire.

Später dann High Tea: Holmes in Lackstiefelchen, Watson im Tutu. Gurkenscheibensandwiches + Earl Grey. „Finger weg von der Gurke“ drohte Holmes.

Aufregender neuer Fall: Prudence Portsmouth, die Nichte von Lady Throttlemore, hatte ihre Unschuld verloren. Wo sollten sie suchen?

Holmes setzte seine Deerstalker Kappe auf, Watson griff zur Lupe, und sie rasten in der Kutsche zu dem Throttlemoreschen Landsitz.

Vor Ort untersuchten sie das edle Bett, den edlen Schreibtisch, den edlen Bürostuhl, den edlen Dielenboden + wogen bedächtig ihre Köpfe.

„Ich kaufe ein D und möchte lösen!“ rief Holmes, als er einen bananenähnlichen Gegenstand unter der Matratze gefunden hatte.

Prudence Portsmouth und deren Freundin Prunella Bottomworth hatten zwar die Finger von den Kerlen gelassen, nicht aber voneinander.

Frühling in London. In der Baker Street wurden die Sash Windows geputzt, hoch + runter. Watson ging vorbei + klemmte sich ein. Er heulte auf:

„For God’s sake, let us sit upon the ground and tell sad stories of the death of kings.“ Shakespeare, Watson?! Auf dem Klo? Geschmacklos!

Watson ahnte den erneuten Rausschmiss. Holmes war in allem so etepetete. Vorsorglich packte er sein Toujourtäschchen.

Es kam, wie es musste. Watson stand auf der Straße, sein hotty-botty in der Hose wärmte ihn. Neben dem oberschlauen Holmes war er ein Nichts.

Der Nebel waberte durch die Baker Street. Watson bestieg die Kutsche, sank in die Polster. Die Räder rumpelten laut über das Pflaster. Stille.

Wochen später: Baker Street in the middle of the night. Holmes has put his hairy legs on his desk, totally drunk and utterly lonely.

Where the heck was Watson!?

Bottomslow by the Sea in the middle of the night.  Watson kippt sich einen Sherry hinter die Binde. Diese grottige Pension! Was tat er hier?

Watson in der Pferdekutsche. Die Gäule fliegen über das Pflaster, Watson krallt sich an seinem Toujourtäschen fest.  Seine Strumpfbänder zwicken.

Baker Street in the early hours: Holmes sinkt auf die Knie: „Watson, endlich kann ich meine Pfeife wieder an ihrem Betonkopf ausklopfen!“

Beide angetütert, der eine auf dem Plumeau vor dem Kamin, der andere auf der Ottomane. Ein leeres Tütchen Koks auf dem Tisch.

Ab morgen dann wieder Crime, Sex und Völlerei: Heile Welt in der Baker Street.

ENDE







Dienstag, 7. September 2010

Auszug aus dem Roman "Taube in der Tanne"


DER BREITE UND DER SCHMALE WEG
Durch die geschlossenen Klappläden dringt das Quietschen eines Handleiterwagens, entfernt sich langsam vom Haus. Das Kind hält die Augen geschlossen, wühlt sich tiefer ins Kissen. Weiß, wie Mutter jetzt den Wagen hinter sich herzieht, auf dem Weg zum Bahnhof, durch die Siedlung, über den schwarzen Schotterweg, und sie die S-Bahn dann nach Berlin trägt. Für eine ganze Woche. Es steht auf, zieht die Schublade mit Mutters Wäsche raus, drückt ihrGesicht in die weichen Pullover - rot und gelb. Sie duften nach ihrer Mutter. Ihre schöne Mama - mit rabenschwarzen Locken, klein und zierlich und in weiten, schwingenden Röcken!
"Püppi!" ruft Oma, "komm frühstücken!" Das Frühstück schmeckt nicht. Es gibt Mehlsuppe mit Zucker. Der Zucker reicht nur für Püppi und den großen Bruder Hänschen. Oma isst die Suppe ohne Zucker.
"Iß ordentlich, damit du nächstes Jahr zur Schule gehen kannst!"
Das Essen schmeckt überhaupt nie. Immer sind Mehlklumpen im Spinat, der Rosenkohl in Mehlschwitze und dann die ewige Mehlsuppe.
"Wenn wir das Mehl nicht hätten, wären wir im Krieg verhungert" erklärt Oma und schiebt den Teller vor Püppis Nase. Püppis großer Traum ist die Schule. Ein ganzes Jahr noch, und die Zeit vergeht so langsam. Mamas Schultertasche hat lange Riemen. Püppi wickelt sie sich um die Schultern - wie ein richtiger Tornister sieht es aus. ‚Alle werden glauben, dass ich zur Schule gehe’ denkt sie und marschiert singend die Straße runter zu Marlies. "Schia, schia, schia scho! Schrippen jibt’t im HO!"
"Meine Oma pellt Knochen" hat Marlies Püppi neulich erklärt und diese so Übles über Marlies Eßgewohnheiten vermuten lassen. Pelle von Knochen konnte auch nicht besser sein als Mehlsuppe.
Marlies schwingt auf dem Gartentor hin und her. "Wollen wir spielen?" ruft sie. Püppi folgt ihr in den Garten. "Wir spielen Friseur" schlägt Marlies vor. "Ich schneide dir die Haare ab und du jibst mir’n Groschen dafür."
Püppi betrachtet ihre langen, blonden Haare sorgfältig. "Nee, lieber nicht."
"Du hast doch nur dünne Ziepen. Mutti sagt, man muss oft schneiden, und dann werden sie dicker." Püppi ist immer noch nicht überzeugt. Hinter ihnen, im Treppenhaus, schlägt eine Tür zu und Getrappel nähert sich schnell.
"Das ist bestimmt die Hanna" sagt Marlies. " Ihre Mutter ist eine Schlampe".
"Was ist eine Schlampe?" fragt Püppi.
"Na, wenn man mit Russen schläft is’ man ne Schlampe!"
"Meine Mama schläft mit mir, aber nicht mit Russen" erläutert Püppi die häusliche Lage.
Hanna kommt zu ihnen rüber. Sie hat ein verheultes Gesicht und wischt sich mit der Hand unter der Nase lang.
„Na, hat’se dich wieder verdroschen?" fragt Marlies hämisch. Hanna kann nur schlucken und schniefen. Marlies greift nach ihren Zöpfen.
"Wir spielen Friseur und du jibst mir ’n Groschen, wenn ich dir die Haare schneide".
Und schwups zieht sie eine Schere aus ihrer Kittelschürze und säbelt an Hannas Zöpfen rum. Aus dem Schniefen wird Gebrüll. Hanna und Marlies liegen kreischend auf dem Boden. Hanna mit nur noch anderthalb Zöpfen, der eine ausgefranst wie ein kaputtes Elektrokabel. "Meinen Groschen her!" brüllt Marlies der wieder ins Haus flüchtenden Hanna hinterher.
"Jetzt wird die wieder verdroschen. Aber det ist die ja jewohnt!" Sie klopft sich den Sand vom Kleid und lauscht angestrengt zum Treppenhaus hin. Hanna schlägt in der oberen Etage die Tür zu, und es dauert keine zwei Minuten, bis man ihre Mutter kreischen hört.
"Sie ist eine Schlampe" beendet Marlies das Friseurspiel.

Sonntag, 5. September 2010

Das Jahr

JANUAR. Der erste warme Winternachmittag. Die Sonne streichelt mir das Gesicht, das Fensterblech scheint sich nach langem Winterschlaf zu dehnen und zu recken. Der Schnee ist schon brüchig. Gleich musst du kommen. Es soll unser letzter Tag sein. Ein Jahr lang sind wir umeinander herum gegangen, tanzen gewesen, Schlittschuh gelaufen, aber nie allein. Ich hatte dich als Protz eingeschätzt, stets laut und oft betrunken. Dein Berliner Wedding-Akzent war dir so viel wert wie der erste Teller eines reich gewordenen Tellerwäschers. Wenn du Blumen kauftest, mussten es Rosen sein, und dein Auto war natürlich ein Mercedes. Das alles lag mir nicht. Und dann kam die Nacht, als wir bei Freunden übernachteten. Ich wachte früh um fünf Uhr auf und sah dich vor meinem Bett nur im Unterhemd sitzen. - Der Kerl muss betrunken sein - schoss es mir durch den Kopf. "Willst du eine Alka-Setzer?" fragte ich zögernd. Lieber Gott, er wollte ganz andere Dinge. Zum Beispiel die Punkte auf meinem Nachthemd zählen. Damals wollte ich nicht. Doch das hielt nicht lange an. Ich hatte bald Schmetterlinge im Bauch, wenn ich nur an dich dachte. Aber ich war nicht die einzige Frau für dich. Du konntest dich nicht zwischen den anderen und mir entscheiden; und ich will jetzt vernünftig sein und mich von dir trennen. Du siehst müde aus, bist traurig und bedrückt. Ziellos fahren wir umher. Meine Hand rutscht suchend zu dir herüber. Ich schiebe sie dir unter deinen Oberschenkel. Das Tiergarten Café. Draußen ist der See noch zugefroren. - Und nie bin ich mit dir dort spazieren gegangen. - Wir trinken schweigend unseren Kaffee. Warum soll es schon zu Ende sein, bevor es richtig begonnen hat? Wir fahren weiter. Die Groninger Straße. Weddinger Hinterhöfe. - War es hier, wo du als Kind und dort, über dem Hof? - Bei Karl rasierst du dich. Ich warte im Wohnzimmer am Ofen. Ich warte gerne; eine zärtliche Ruhe erfüllt uns. Nun liegt mein Kopf auf deinem Schoß, und die Bäume des Tegeler Waldes fliegen über mir hinweg. Dort hinten, am Ende der Allee, wo der runde Parkplatz ist, halten wir an. Die Nachmittagsstunden verticken. Kindheitserinnerungen, Sehnsüchte und Zukunftsträume. Wir werden uns nicht trennen. Wir bleiben zusammen! Wir werden zusammenziehen, heiraten, gemeinsam alt werden. Nur dies soll unsere Tage bestimmen.

APRIL. Der Frühling ist da, und mit ihm kommen Duisburg und Düsseldorf. "Du hast noch nie den Rhein gesehen? Komm, ich zeig’ ihn dir!" Wir hüpfen wie die Frösche über Pfützen zum Ufer, lehnen uns weit über die Mauer. Vor uns in der Nacht dunkles, vom Regen aufgewühltes Wasser. Du nimmst mich in deine Arme - wirbelst mich herum. Nun laufen wir tropfnass durch die Strassen. Der Regen schlägt uns ins Gesicht. Zurück in Berlin beginnt wieder der Alltag für uns. Wenn ich nicht zur Schule muss, nimmst du mich mit auf deinen Fahrten zu Kunden, ich besuche dich in der Werkstatt. Von der Esse her faucht mich die Wärme an. Der Geruch von Holz, Öl und Farbe bleibt stets in deinen Haaren zurück. Tag für Tag führt mich der Weg zu dir, beladen mit Thermosflasche, Obst und Schnitten.

JUNI. Ein langer, heißer Sommer voller Erdbeeren und verschlafenen Nächten und Tagen im Glienicker Wochenendhäuschen meiner Eltern. Erst gestern war’s, als meine Haut noch von der Sonne zu glühen schien und ich mir den Glienicker See aus den Haaren schüttelte. Heute rauscht der warme Sommerregen gleichmäßig, und ab und zu fällt ein besonders großer Tropfen auf mein Fensterbrett. Beim Anziehen bemerke ich den Geruch meines Pullovers. Ein bisschen feucht vom Regen. Er riecht nach Schlaf und Glienicke. Ich kann fast deinen warmen Körper spüren. Oder deine Hand die so schwer auf mir lag, als du schliefst.

JULI. Ich habe meine Prüfung an der Industrie- und Handelskammer bestanden und auch meine erste Stelle als Übersetzerin gefunden. Wir wohnen jetzt zusammen. Wie ein Kreisel drehe ich mich jeden Tag um dich. Früh um halb sieben klingelt der Wecker, und ich rolle schlaftrunken aus dem Bett, mache dir Kaffee und Frühstück, kaufe dir Zeitungen, und ganz gleich, wie ich mich beeile, ich verpasse doch immer den Bus. Ich bin Hausfrau und berufstätig. Der Stolz wiegt alle Mühen auf. Keine Wartezeit an der Haltestelle und keine Busfahrt ist mir zu lang: Meine Gedanken drehen sich um dich. Im Büro schreibe ich in jeder freien Minute endlose Einkaufslisten für die Wohnung und Geschenklisten für alle Feiertage des Jahres und durchlebe im Voraus unsere ganze Zukunft. Um zehn Uhr herum wecke ich dich telefonisch. Und zähle jede Minute bis zum Büroschluss. Jede Überstunde treibt mich zur Verzweiflung. - Nun kann ich nicht mehr einkaufen gehen! - Und ich wollte doch ..... Ich will so viel. Kochen, Waschen, Geschäftsbriefe schreiben und deine Liebe. Abends gehen wir öfter zu "Paukchens Pavillon ". Gestern war mir auf dem Nachhauseweg übel, und du hast deine Hand auf meinen Magen gelegt und nur mit einer Hand gelenkt. Automatisch hast du das getan, was ich immer tue, wenn dir nicht wohl ist: Ich streichel und wiege dich in meinen Armen hin und her, bis du eingeschlafen bist. Schon hat die Gewöhnung aneinander sich bei uns eingenistet.

AUGUST. Die Nächte sind ein warmes, dunkles Hin und Her des Schlafens und Halbwachseins. Wie auf weichen, gleitenden Wellen trägt mir mein Bewusstsein deine Gegenwart zu. Ich wage kaum zu schlafen. Ich könnte es sonst nicht richtig genießen, dass du da bist. Deine Wärme, deine Nähe ist das erste, was ich früh spüre, und das letzte, was ich fühle, bevor ich abends in weiches Dunkel falle. Wie nahe kann man jemandem sein? Du puffst mich hartnäckig mit deinem Knie. Ich grunze verschlafen und genieße blinzelnd das helle Sonnenlicht in unserem Zimmer. Kringel auf der Gardine, auf dem Teppich und auf deinen störrischen Haaren. Du öffnest ein Auge und drückst es wieder zu. Ich ignoriere das. Schamlos zwinkerst du mich an. Das Knuffen hört nicht auf. So rupfe ich dir deine sandigen, struppigen Locken. Wir balgen uns. Dein Bein hier und meins dort. Wir kugeln, und der Fußboden hat mich wieder. Es ist Sonntag, ich brauch’ nicht ins Büro und du nicht in die Werkstatt.

SEPTEMBER. Früh um viertel nach sechst bist du wiedergekommen. Ich habe frischvergnügt mein Bügeleisen geschwungen und dich gefragt, ob du dich gut amüsiert hast. Mit trüben Augen und spitzbübischem Lächeln bist du in die Küche geschwankt. "Blumen, bla, Blumen jibt’s nich. Nich bei mir! Ich bin so, wie ich bin! Basta! " Mein Bügeleisen zischt gemütlich. Kein Vorwurf. Stille. Liebevolles Hemden zusammenlegen meinerseits. Unzufriedenes Lachen aus der Küche. "Mecker doch. Na los!" Was habe ich vom Meckern? Beim nächsten Mal werfe ich dir einfach den nächstbesten Gegenstand an den Kopf. Und beim übernächsten Mal? Wenn du ausgeschlafen hast, dann wirst du mir wieder mit einem bezauberndem Lächeln erklären, dass ich die wunderbarste Frau auf Gottes weiter Erde sei oder dein bester Kumpel und dass ich nicht hinhören soll, wenn du betrunken bist.

OKTOBER. Oh, ihm ist der Kragen geplatzt! Immer diese Verschwendungssucht meinerseits. Er hat mich wieder beim Taxifahren erwischt. Er fuhr mit seinem Mercedes vor, und da stieg ich gerade aus dem Taxi. Mein Drei-Zentner-Einkaufskorb fiel mir vor Schreck fast aus der Hand. "Musst du dir immer ein Taxi leisten? So viel verdienst du doch nicht?!" Resigniert schleppe ich alles nach oben. - Vielleicht sollte ich auch mehr zum Kostgeld beisteuern? Auf dem Schreibtisch liegen Taxiquittungen. Sie sind aber nicht von mir. Von ihm auch nicht. Seit wann kann man Freundinnen von der Steuer absetzen? Buchführung ist mein Revier. Er ist zitierend die Treppe hinter mir hochgestiegen: "... und vom Kostgeld kaufst du dir obendrein Strumpfhosen!!" Sagt’s, zieht ein frisches Hemd an und fährt zu Klarabella Soundsoviel, um ein teures Abendmahl einzunehmen. Später bekomme ich dann die Quittung wieder für die Buchführung. Die Aktion läuft unter: "Liebling, ich habe in der Werkstatt noch etwas zu tun." Ich glucke über dem Essen wie eine Henne über schon längst flügge gewordenen Küken und kipp’s dann weg. Dieses Weib kann nicht haushalten. Aber ich hab schon gelernt dass man Champignons nicht tagelang aufwärmen kann.

NOVEMBER. Was nun? Drei Uhr früh. Ich schaue mich um. Auf dem Tisch stehen Blumen, daneben liegt mein Strickzeug. Meine Küche ist sauber, zu sauber, alle Rechnungen sind geschrieben, bin ich nicht perfekt? Zu perfekt. Zuerst möchte ich mich am liebsten umbringen, wenn ich allein in der Wohnung sitze und auf ihn warte. Und dann kommt die Müdigkeit. Nichts zählt mehr. Nur die Ohrfeige brennt noch, die du mir neulich gegeben hast. Soll er, soll er doch... Alles, was ich will, ist Ruhe. Ruhe vor mir selbst, vor meinen verzweifelten Versuchen, den Fehler bei mir zu finden, Ruhe vor deinen sich widersprechenden Erklärungen. Heute Liebe, morgen Untreue. Ist dies das Gesicht meiner Zukunft? Was für Regeln herrschen da zwischen Mann und Frau? Soll ich spielen: Heute mach’ ich mich rar, morgen dich eifersüchtig? Hasch‘ mich, du besitzt mich noch nicht ganz? Kann man jemanden besitzen? Und so schleicht die Müdigkeit ins Herz. Vielleicht ist es an der Zeit, dass ich lerne, wie man Liebe verbirgt, und nicht, wie man sie zeigt. Aber auch das ist ein Spiel. Wie wird man erwachsen? Wann hören die Spiele auf?

DEZEMBER. Nebel, Nebel ... . Dick wallend am Fluss, in Fetzen in den Strassen. Wie muss das sein, wenn man einen Menschen sucht, ihn nicht findet und immer weiter irrt, ohne zu begreifen, er wird nie wieder kommen? Ich jedoch habe dich immer wieder gefunden. Ein Bus kam, der sonst nie hier lang fuhr. Die Leute in ihm schienen schon zur Frühschicht zu fahren. Ich wusste nicht, in welche Richtung er fuhr, stieg blindlings wieder aus. Der Nebel schluckte mich. Und dann begann die Suche mit dem Taxi. Alle bekannten Bars. Später hockte ich wieder auf meinen drei Kissen auf dem Stuhl am Fenster. Vom Tegeler Flughafen her strich der Lichtschein über den Himmel, schnell und huschend wie ein Scheibenwischer. Alle paar Sekunden. Der Nebel ist fort. Schnee fällt in dicken Flocken. Die Scheinwerfer der Autos geistern durch diesen Schneevorhang. Regen dribbelt die Scheibe herunter. Frost fängt ihn auf und lässt ihn erstarren. Ich bin so müde, und werde nie wieder schlafen können. Der Morgen kommt, ich ziehe mich an. Es wird Zeit für mich zu gehen. Auf der Treppe treffe ich dich.

JANUAR. Amerika liegt vor uns. Dort willst du mich heiraten, mit mir durch dick und dünn gehen, mich auf Händen tragen und mich nie wieder betrügen. Ein ganz neues Leben soll beginnen. Ich habe schon mein Visum beantragt. Du fährst vor, um eine Wohnung zu besorgen und um Arbeit zu finden. Weißt du auch, dass ich mein Visum rückgängig machen werde, wenn ich zurück in Berlin bin? Bis zum Schiff in Genua werde ich dich noch begleiten, und nicht weiter. Es wird dir nicht lange wehtun, mein Grauer. Ein bisschen verletzter Stolz, ein bisschen Sehnsucht nach meiner Liebe und meiner Hände Arbeit für dich. Wie lange wird es mir wehtun? Ein Jahr lang habe ich dir alles gegeben, was ich hatte. Du wirst ein paar Telegramme schicken, anrufen und die berühmten roten Rosen schicken. Das werden wir überwinden. Auch noch eine Woche lang die kleine, weiße Lüge unserer gemeinsamen Zukunft, die hier in Genua beginnen soll. Und dann kommen die ersten entspannten Tage. Es ist schön, ganz allein mit sich ins reine zu kommen. Nicht darüber zu reden. Der Schmerz wird später kommen. Wir gehen täglich zum Meer runter, wandern über den knirschenden Strand. Ich suche nach bunten Strandsteinen und Scherben, die dann meine Anoraktaschen gewaltig ausbeulen. Wir steigen über Felsen und sonnen uns erschöpft von einem langen Winter. Nachmittags beobachten wir die Fischer und sitzen stundenlang in dem runden Strandcafé in Arenzano, das fast leer ist, wo der Caffelatte immer etwas bitter schmeckt. Du willst dir einen Schnurrbart wachsen lassen, und ein ständiger Schatten liegt jetzt auf deiner Oberlippe. Er wird rot werden, glaube ich, oder doch wenigsten rot-braun und nicht aschblond, wie dein Kopfhaar. Auf unseren Spaziergängen streifen meine Augen Häuser und Gärten, geführt von dem alten Wunschtraum, da mit dir zu leben. Doch wenn ich die Augen schließe, sehe ich mich nur allein in allen Räumen. Ich habe einen Zweig abgebrochen, der in unserem Zimmer einen Zitronenduft verbreitet, besonders, wenn man den Stiel ins Wasser legt. Dies ist das einzige Mittel, den starken Ölgeruch zu schlagen, der aus der Küche kommt. Ich nehme alles in mir auf, den Zitronenduft, den Geruch deines Tabaks. Und bin gar nicht mehr da. So tut es nicht weh, als es aus ist mit den Spaghetti, dem billigen Rotwein, den jämmerlichen Katzen unter deinem Auto vor der Pension und deinen Pfeifenstunden. Warten, Zeittotschlagen und Gepäckabfertigung. Ich kann nicht mit aufs Schiff kommen.

Ist dies das Letzte, das ich von dir in Erinnerung haben werde? Der Strippenregen, das hastige Verstauen im Taxi auf dem Ponte dei Mille und ein verzweifeltes An-Dich-Ziehen "See you in New York" und der seltsame Ausdruck in deinem Gesicht. Wusstest du, dass es für mich kein New York geben würde? Mich hat der Zug dann fortgetragen. Mit klemmenden Fenstern, aus denen ich mich weit rauslehnte, um den Wind zu schlucken und um keinen Kontakt mit anderen Reisenden aufnehmen zu müssen. Immer weiter in den Norden, weiter weg von dir und immer näher zu mir. Rauchst du noch Pfeife? Wie ist New York? Aber will ich das wirklich wissen?

Von meiner Warte

Ich schaue ihr schon den ganzen Abend zu. Ihr Gang ist schwer, sie hat ihre Leichtigkeit verloren, kommt nicht mehr zur Ruhe, räumt ständig in den Schränken herum. Ach, wie ich das kenne! Bei allen Familien habe ich die Frauen immer am meisten geliebt. Sie brauchten mich, sie liebkosten mich, eine hat allerdings auch ihre Malfarben über mir ausgekippt, aber ich habe ihr verziehen – ihre Aquarelle waren wunderbar, nass in nass zerfloss alles, die Farben faserten sich wie Blumenkohlröschen ins Papier, und alles fand direkt auf mir statt! Aber wenn dann diese Unruhe aufkam und sie nachts mit offenen Augen nur einen Schritt von mir entfernt in ihrem Bett lagen, wusste ich schon, dass sie mich verlassen würden.

Jetzt kommt sie endlich zu mir, sinkt auf den Stuhl, schmiegt sich an meine Wölbungen, ihrer Hände gleiten über meine Rundungen, streichen über meine glatte Oberfläche. Sie legt ihren Kopf auf mich und weint. Ich atme den Duft ihrer Haare ein und sie meinen seit fast hundert Jahren immer noch zarten Holzduft. Jetzt zieht sie meine mittlere Schublade auf. Nimmt ihr Tagebuch heraus und schreibt! Leise schabt der Füllfederhalter übers Papier. Ich bin erleichtert, denn ich weiß, dass sie nun zur Ruhe kommen wird.

Donnerstag, 2. September 2010

Es war einmal ein Riese, der lebte in den warmen Monaten des Jahres mit drei Katzen in einem Haus. Es gab den Frühjahrskater, den Sommerkater und die Herbstkatze. Nur für den Winter hatte er niemanden. Und wenn im Herbst die Nebel fielen und er anfing mit der Katze zu hadern, weil er wusste, dass nach ihr nur noch der einsame Winter kam, hoffte er stets, dass doch noch ein Tier in seinem Garten erschien, das ihm anbot, den Winter mit ihm zu verbringen.
Aber Jahr für Jahr geschah nichts dergleichen. Seine vierbeinigen Pelzer verschwanden unwiderbringlich Ende November im Keller und tauchten erst Ende März, einer nach dem anderen, wieder auf.
Der Keller hatte unübersichtlich viele Kammern und Holzverschläge. Der Riese hatte schon vor Jahren vergessen, was dort alles gelagert war, und obwohl er sich stets vornahm den Keller aufzuräumen, gelang es ihm nie. So sah es um die Treppe herum noch recht manierlich aus, aber je weiter es in die Tiefe ging, umso dunkler, staubiger und vergessener wurde es. Hinzu kam, dass jedes Jahr immer neue Dinge in den Keller wanderten. Alte Möbel und Kisten und Kartons, seine Erinnerungen und seine langgehegten Wünsche und Träume, an die er nicht mehr denken wollte, weil es ihm eine Last war. Auch für den Schmerz gab es riesige Holzverschläge, ganz hinten, noch hinter dem Kohlenkeller, wo er sich die Hände würde schmutzig machen, wollte er dort aufräumen.
In diesen Keller verschwanden die Katzen für lange Monate. Und da er nie den Mut hatte, ihnen zu folgen, wusste er auch nicht, was sie dort taten. Schliefen sie? Eine Art Winterschlaf für Hauskatzen? Doch dann hörte er in den langen einsamen Winternächten ein fernes Rumpeln aus dem Keller und wusste, dass sie nicht schliefen. Da zog er sich furchtsam die Decke über den Kopf, denn er wollte nicht wissen, was da unten los war, denn er war zwar groß aber leider nicht mutig.
Draußen zog der Winter in seinen Garten, biss in die Zwiebelknollen der Tulpen, wenn der Riese vergessen hatte sie warm mit Tanne zuzudecken, legte sich mit glitzernder Schönheit auf die Bäume und hauchte Frostblumen an die kleinen Kastenfenster des Hauses. Wenn der Riese klug im Herbst Holz gesammelt hatte konnte er sich am Kaminfeuer wärmen und die Öfen befeuern.
Aber der Winter war nicht immer kalt, trocken und leuchtend weiß, sondern oft war er nur grau und feucht. Er drückte den Rauch in den Kamin und zog dem Riesen schmerzhaft in die Knie und die Schultern, so dass er sich nicht bewegen konnte. Und ließ ihn nachts nicht schlafen, wenn der kalte Wind ums Haus heulte und es im Keller leise rumorte.
Anfang März aber brachen die Krokusse durch die Erde, und die Wiese erstrahlte in blau und gelb. Und noch bevor die roten Tulpen folgten, stand Kater Jakob mitten im Schlafzimmer des Riesen, um ihn zu wecken! Mit leuchtend gelben Augen, glänzendem schwarzem Fell, dicht und puschelig, und um die strammen Hinterbeinchen mit samtenen Pluderhosen. So begann das Jahr mit Kater Jakob! Denn Dezember bis März war der Riese katzenlos gewesen und hatte nicht gelebt, nur gewartet.
Nun kam frische Luft in alle Räume - der Riese putzte die Fenster und war von früh bis spät glücklich und sehr beschäftigt.
Jakob eroberte das ganze Haus, schlief mal hier mal da, lag auf dem Rücken und hatte die kleine, rote Zunge beim Schnarchen raushängen, oder kuschelte sich in den großen Sessel im Arbeitszimmer des Riesen. Der kochte Seelachs mit Reis, warf ihm auch kleine Fleischbällchen zu, und es war eitel Freude und Fettlebe in ihrem Haus.
Anfang Mai zog der Sommer ins Land. Früh fiel das Licht durch die Jalousetten, brach sich bunt im geschliffenen Glas der Frisierkommode, und als der Riese sich die Augen rieb, stand Kater Merlin in aller Sommerpracht vor ihm! Sein Fell leuchtete orange-rot in der Sonne, über die Brust zog sich ein weiches, gelbes Flies und um den stolz erhobenen Schwanz waren rote Ringel. Merlins Augen waren bernsteinfarben und seine Schnauze und die Ballen an den Pfoten rosarot.
Er ging majestätisch auf den Riesen zu, stieg zu ihm ins Bett und ließ sich in dessen linker Armbeuge nieder. Das war sein angestammter Platz, wo er dem Herzklopfen des Riesen lauschen konnte. Und hier sprachen sie lange, leise miteinander und gestanden sich, wie einsam der Winter gewesen war. "Mein zimtfarbenes Plätzchen, du", "Mein Ingwerstäbchen", "Mein keltischer Prinz" überhäufte der Riese den großen Kater mit Liebkosungen, und Merlin hing an den Lippen seines geliebten Riesen.
Der Sommer war warm und hell. Über den Rasen tollten zwei Kater, der eine rot, der andere schwarz. Und da es nachts warm war und der Riese manchmal nicht schlafen wollte, legte er sich in das Gras in seinem Garten, ganz weit in der Ferne die Geräusche der Stadt, über sich die Kronen der alten Bäume.
Die Pflaumen wurden reif, und der Riese kochte Marmelade. Die Sonnenblumen wuchsen schier in den Himmel, und am Spalier und an der Hauswand wurden langsam die Weintrauben reif. Die Kater hatten ihre Lieblingsplätze gefunden, hoch auf dem Kleiderschrank und zusammengerollt auf dem Korbstuhl im Badezimmer.
Der Weg in den Keller war immer offen. Es gab kleine Schlupflöcher für die Pelzer in jeder Tür. Aber im Sommer zog es sie nie in die Tiefe des Kellers. Wohl aber kam noch ein Pelzer herauf: die Katze! Als letzte stieg sie die Treppe hoch und verlangte Aufnahme unter den Vierbeinern und bei dem Riesen. Sie war die Älteste, die Schönste und die Klügste! Dreifarbig - schwarz, weiß und rot, der dunkle Teil des Felles rauchgrau wie bei einer Karthäuserkatze. Ihre grünen Augen funkelten, und mit kehliger Stimme schrie sie: "Friederike ist da!" und alle kamen, um sie zu empfangen, sie als Dienstälteste zu hofieren, vor die vollen Futternäpfe zu führen, hinter den Ohren zu kitzeln und ein seidenes Kissen aufzuklopfen.
Friederike selbst hatte jedoch nur Augen für den Riesen - ihn liebte sie leidenschaftlich und besitzergreifend. Kater Jakob wurde giftig angefaucht und auch Merlin bekam gleich die Pfote zu spüren! Ihre preußische Natur ließ sie neben sich keinen anderen Pelzer dulden, und der Riese spürte das baldige Herannahen des Herbstes schon in seinen Knochen.
Vorläufig wurden aber erst einmal die Kastanien reif und knallten laut auf das Dach. Der Wein wurde geerntet und auf langen Schnüren auf dem Dachboden aufgehängt. Die Vögel plünderten in organisierten Beutezügen die restlichen Weintrauben am Haus und die Hagebutten im Vorgarten. Friederike saß dann mit gierigen Augen im Fenster, aber verließ trotzdem nie das Haus.
Sie war die Katze des Hauses, hockte auf dem Treppenabsatz vor dem Schlafzimmer und versuchte die Kater daran zu hindern, nach oben zu kommen. Mochten die doch da draußen, wo es windig und feucht war und andere unsagbare Vierbeiner sich herumtrieben, ihr Regime führen, hier im Hause war sie die Königin, wenn auch erst ab dem Monat Juni. Und der Riese kraulte ihr die weiße Brust und ließ sie an seinen Fingern zärtlich knabbern. Gegen Abend fanden sich die Kater ein und erkämpften sich ihre alten Plätze. So gab es Ruhe im Haus, wenn der Riese schlafen ging. Wie eine Herde lagen seine Lieblinge um ihn herum: wohliges Schnurren, glänzendes Fell, lang gestreckte Körper mit leicht angemästeten Bäuchen, eine wohlige Erinnerung an Leberhäppchen, Forellenfilets, Seelachs mit Reis und zarte, frische Mäuse.
Doch mit den ersten Schneeflocken, dem ersten Frost, brach diese Herde auf: zuerst Jakob, dann Merlin und zum Schluss Friederike. Hinab in den Keller, ins endlose, graue Vergessen. Würde der Riese nie erfahren, was sie dort trieben? War der Keller ein Gang in eine andere Welt, wo die Katzen schliefen und spielten? Gab es dort einen Winterriesen, der sie schon erwartete? Oder rollten sie sich in einer staubigen Ecke zusammen und verschliefen die kalte Jahreszeit?
Mit der Einsamkeit des beginnenden Winters ergab der Riese sich in sein Schicksal und schob täglich etwas Trauer und Sehnsucht die Kellertreppe hinunter.
So ging es viele Jahre. Die Katzen kamen und gingen und mit ihnen auch das Leben im Hause des Riesen.
Und eines Tages war es wieder so weit, dass der letzte Pelzer in den Keller verschwand. Diesmal sah der Riese Friedericke hinterher, als sie langsam die Kellertreppe hinunter stieg. Es tat ihm weh, sie gehen zu sehen, doch zum ersten Mal drehte er sich nicht weg. Im Dunkel des Kellers leuchteten ihre weißen Flanken auf. Der Riese spürte Sehnsucht nach ihrem weichen Fell, und die Katze hielt inne, drehte sich um und sah ihm tief in die Augen. Und ihm war, als wenn Zeit und Raum versanken; er sah nur das Leuchten ihrer Augen. Drei Farben, dachte er. Jakob ist schwarz, Merlin ist rot und Friedericke ist schwarz-weiß-rot. Das Weiß ihrer Flanken schien aus dem Dunkel des Kellers in sein Herz zu strahlen. Eine weiße Katze fehlte! Weiß, wie eine kleine, heiße Flamme, weiß wie der frische Schnee! Mit einem Schluchzen ließ er seine winterliche Einsamkeit heraus und bat die Katze: "Geh nicht, bleib bei mir, nur diesen einen Winter!" Da schien es ihm, als wenn Friedericke traurig wurde, aber sie schritt langsam weiter die Treppe hinunter. Der Riese folgte ihr Schritt für Schritt. Die Sehnsucht nach Friedericke führte ihn immer weiter ins Dunkel.
Bald stand er allein im Keller, stolperte über Kisten und Kasten, fiel in seine eigenen Erinnerungen und Wünsche. In jedem Korb, in jedem Koffer waren nicht nur alte Kleider und Geschirr, sondern auch seine Einsamkeit, seine Angst vor Nähe. Jeder Winter war mindestens eine Kiepe voller Trauer und Angst. Und als er unter Tränen alles beschaute und befühlte und sich schrecklich schmutzig machte, konnten auch all die verbuddelten Wünsche und Erinnerungen hervorgezogen werden.
Die Zeit verging, und der Riese kam einem ständigen Rumoren immer näher. Und dann sah er die Katzen: sie räumten und rückten, sortierten und entstaubten. Jakobs lackschwarzes Fell war voller Staub, Merlins roter Pelz voller Flecken, und Friedericke hatte abgebrochene Krallen vom vielen Arbeiten.
Die Pelzer räumten Jahr für Jahr den Keller auf! Sie führten kein herrliches zweites Leben mit einem Winterriesen, sie schliefen nicht rund um die Uhr, sondern arbeiteten für ihn, damit der Keller mit seinem Gerümpel nicht das Haus aus den Fugen geraten ließ.
Diesen Winter nun packte der Riese mit an. Es gab ein Riesengetöse, dicke Staubwolken, viel Niesen und so manch alte Kröte, die in den Ecken aufgescheucht und von den Katzen verjagt werden musste. Es dauerte Wochen, bis er sich wieder auf den Weg nach oben machte, dünn und ausgehungert! Als er nach oben kam und die Kellertür knarrend ins Schloss fiel umgab ihn eine weiße Stille, denn draußen hatte sich die Welt verändert.
Es lag zentimeterdick Schnee ums das Haus herum, auf allen Bäumen, Dächern und Fensterbrettern. Der Schnee erhellte auch innen das Haus. Mit klammen Fingern machte der Riese sich einen Tee und wärmte sein Gesicht an der Tasse. Er stand ganz still und lauschte. Um ihn war nichts als Stille und die Helligkeit des Schnees vom Garten. Und obwohl er ganz allein war fühlte er sich nicht einsam, nur müde und erschöpft nach all dem Lärm und Getöse im Keller. Und er spürte seine schmerzenden Knochen von der Arbeit, aber auch sein leichtes Herz.
Dieses Jahr nun war der Winter trocken und kalt, und weil der Riese nicht hatte heizen können, waren alle Fenster mit Eisblumen überzogen und an den Dachrinnen hingen Eiszapfen. Als er das Kaminfeuer in Gang setzte und sich im Sessel ausstreckte, taute ganz langsam das Eis von den Fenstern. Und aus den Rinnsalen heraus hob sich der Umriss einer Katze ab. Eine schneeweiße, große, schöne Katze. Sie hatte die Augen geschlossen, saß ganz still und gerade.
Der Riese sprang auf, streckte die Hände nach ihr aus und sagte zum zweiten Mal in diesem Winter die Zauberworte: "Geh nicht weg! Bleib bei mir! Ich brauche dich!" Da öffnete die Katze ihre leuchtenden Augen und kam zum Leben.
Als der Riese in diesem Winter in den Garten ging und in den weißen Schnee sah, war immer die weiße Katze bei ihm, die er aber nur sah, wenn sie die Augen öffnete. Sie war nicht nur im Schnee, sondern auch im weißen Raureif, im glitzernden Frost und im dichten, kalten Nebel. Sogar in der langen, weißen Gardine konnte er sie nun sehen.
Sie war schon immer dagewesen, nur hatte er sie nicht sehen können, weil sein Herz so schwer gewesen war. Sie hatte all die Jahre gewartet, dass er sie erkennt und ruft, sie weckt und mit ihr den Winter genießt. So erkannte der Riese, dass es im Winter eine stille und weiße Liebe gab, die nach der warmen und lauten Liebe des Sommers kam.
Und die weiße Katze wurde zu der kleinen, heißen Flamme in seinem glücklichen Herzen und würde nie wieder weggehen, wenn er sie nur immer erkennen wollte.
Das Jahr hatte nun nie wieder eine Lücke. Es war rund, mit zwölf Monaten, vier Jahreszeiten, vier Katzen.