Montag, 25. Oktober 2010

Veröffentlichungen


coverbrüggen.jpgMein Text wurde aus einigen hundert Einsendungen mitausgewählt und erscheint nun, mit vielen anderen Geschichten, in der unten stehenden Anthologie unter meinem Namen Eva Tanner.


SO EIN MENSCH


Die Auseinandersetzung mit Vorbildern...Anthologie zum ‚Dritten Brüggener Literaturherbst’
Ellen Roemer (Hg.)
Geest-Verlag 2010
978-3-86685-269-3
478 S., € 14,-

Die Bandbreite der Vorbilder reicht dabei von bekannten Theoretikern, Musikern, Literaten, Sportlern, engagierten Menschen über familiäre Vorbilder, bis hin zu Menschen, denen man zufällig begegnet ist.  Es können Haltungen und Eigenschaften sein, die man selber erreichen will oder auch ablehnt und die sich in der jeweiligen Person verkörpern. Häufig steht die Vorbildperson aber auch für ein Vertrauen, das man gespürt hat, ohne deren Werte und Verhaltensweisen zu teilen.  Jeder der Beiträge führt uns als Leser zur Frage nach eigenen Vorbildern und damit auch in die Diskussion über unsere grundlegenden  Werte und zur Auseinandersetzung, ob wir selbst Vorbild sein können und wollen.

In zahlreichen Veranstaltungen des Brüggener Literaturherbstes vom 29.10. bis 20.11.10 werden die Texte erstmals der Öffentlichkeit präsentiert.

Das Buch ist ab sofort im Buchhandel oder direkt ab dem Geest-Verlag erhältlich.

Dienstag, 12. Oktober 2010

TREIBHOLZ





Eine kleine, akzentuierte Liebesgeschichte mit 140 Zeichen in jedem Absatz. Für Twitter im Oktober 2010 geschrieben.



Als Accent Aigu zum ersten Mal Accent Grave sah, erschrak er. Er glaubte, sein seitenverkehrtes Ich zu sehen.

Accent Aigu näherte sich vorsichtig Accent Grave. Es knisterte, als sie sich berührten.

Accent Aigu und Accent Grave lehnten sich aneinander und spürten, wie fest im Leben sie plötzlich standen. Sie waren ein Dach geworden: Ein Circonflexe.

Accent Aigu ging auf Reisen. Circonflexe kollabierte und Grave geriet ins Wanken.

Grave stand windumtost am Meer. Sie war so schräg wie herbstliches Treibholz.

Dann waren sie wieder unter Circonflexe vereint, nicht ohne Folgen.

Ganz klein und gekrümmt tauchte unter dem Dach, unter Aigus und Graves Balken, ein Cedille auf.

War dieses Cedille schon immer da gewesen, nur  hatten sie es nicht gesehen? Wo schlängelte es hin, das Würmchen?

Cedille hing mal hier, mal da, sagte Mama und Papa und wurde dick und fett.

Dann wurde Cedille zu schwer für Circonflexe, und es verließ das heimatliche Dach. Es zog nach Spanien und änderte dort seinen Namen.

Grave und Aigu waren nun alt und schwach geworden. Es fiel ihnen schwer, ein Circonflexe zu bilden.

Als Grave nach hinten kippte, fiel Aigu auf die Nase. Der Wind pustete die beiden dünnen Aufstriche über den Strand. Sie wurden zu Treibholz.

Freitag, 8. Oktober 2010

ROSALIE SOLO - das Leben einer Seekuh


(Aquarell von Bettina Smith-Schroeder)

Sie steht im  Wasser des alten Schiffgrabens. Bis zur Hälfte, damit man sieht, wie sie die Arme über der Brust verschränkt, als Zeichen ihrer nimmermüden, gütigen Geduld.  Ihre Lider sind rosa, die Wimpern lang, und auf der Stirn trägt sie eine Korkenzieherlocke.  Rosaliens Stolz und Sitz ihrer Keuschheit sind ihre hellblauen Achselhöhlen. Wenn die Sonne scheint trägt sie ein kleines, weißes Hütchen aus  Tüll, je nach Belieben mit Feld- und Wiesenblumen geschmückt. So steht sie, ein mildes, frauliches Lächeln auf den Lippen und harrt ihrer Kunden. Diese stürmen in wüstem  Gehabe heran. Rosalie strafft sich, entspannt ihre Gesichtszüge und empfängt sie. Sie wird getunkt und angebrüllt und doch ertrinkt sie nie. Man staucht sie, um sich abzureagieren, man erleichtert sein Gewissen, entlädt seinen Zorn bei ihr und flüstert ihr böse Geheimnisse ins Ohr. Gütig gönnt sie ihren Kunden Ohr und Rat. Das Wasser rinnt ihr dabei über die rosa Lider, und das Lächeln verschwindet nie von ihren Zügen.
Der hintere Teil des Schiffgrabens ist  sumpfig und verwildert. Im Schlamm modern die Sünden und Geheimnisse der letzten Jahrzehnte. Hier entlädt Rosalie die Last der Beichte, stampft sie schnaubend durch den Schlamm, würgt sie die ihr anvertrauten Geheimnisse wieder raus. "Und dass du ja Dein Maul hältst!" äfft sie ihre Kunden nach. Dann schiebt sie sich wieder durch das Schilfdickicht, ein entspanntes Lächeln auf den Lippen.
Madame Solos Stellung ist einmalig und unantastbar. Ihr Rat gilt und  man vertraut ihr.
Rosaliens Speiseplan ist exquisit aber handfest. Ihr Leib- und Magengericht sind Pfannkuchen. Dieser Leidenschaft frönt sie wann immer sie kann, obwohl sie nach ihrem Genus sichtbar in die Breite geht.  Wenn es Abend wird zieht sich Madame Solo diskret in das Röhricht zurück, um sich einen Riesenhaarroller für die Stirnlocke einzudrehen.  Sie ölt sich die seidigen Wimpern, und nach ihren abendlichen Meditationen im Scheine einer Kerze kippt sie nach hinten um, hält aber doch ihr Gleichgewicht. Nach einigem Hin- und Herruckeln legt sie sich auf den Rücken, die Hände über dem Bauch verschränkt, die langen Wimpern niedergeschlagen, die Füße, mit den drei Zehen, gerade aus dem Wasser ragend.  So treibt sie auf ihrem Schiffgraben umher. Ist es windstill, findet man sie des morgens an der gleichen Stelle wie am Abend zuvor, weht der Wind leicht, treibt sie ab ins Röhricht, kommt Sturm, kreist sie unaufhörlich und Schwindel erregend auf dem Wasser.

Rosaliens Milde und Güte sind bekannt in allen Landen. Ihre abgelegten Strohhüte lässt sie stets dem städtischen Fond für unterdrückte und hilfsbedürftige Seekühe zukommen. Allerdings geht sie nie so weit, dass sie Kränzchen oder dergleichen gibt. Sie liebt ihre Mitmenschen und Mitkühe auf weltumarmende Weise, doch lieber aus der Ferne.

Ihr Reich umschließt den Garten mit dem Schiffgraben und auch  den Hof mit der Teppichklopfstange. Hier kann sie mit ihren weichen, zarten Füßen über den Rasen gehen, und ihre drei Zehen finden noch Halt. Wenn sie zum Bäcker oder zum  örtlichen Gasthof, der  „Deutschen Eiche“ möchte,  besteigt  sie einen kleinen zweirädrigen Wagen, der lange von einem Schwein gezogen wurde. Genau genommen von einer Wildsau, einer Bache. Diese Bache war in jüngeren Jahren die Obersau des Ortes gewesen - sie hatte unzählige Frischlinge geworfen und in ihrer Freizeit sich dem Genus des kühlenden Schlamms im Schiffgraben hingegeben.  Doch als das Alter nahte hatten die  Wildsäue sie verstoßen und so war sie auf einen Broterwerb im Dienste der Seekuh angewiesen.

Doch Rosalie und Sau fielen verständlicherweise unangenehm auf, nicht nur im Straßenverkehr, sondern auch die Nachbarn und Mitbewohner empörten sich. War es vertretbar sich von einem Schwein chauffieren zu lassen?

Es bedurfte monatelanger Geduld, bis man ihr anhand von sozialkritischen Büchern verständlich gemacht hatte, dass alle auf der Welt gleich wären, zumindest einige. Von da an war es nur noch ein Katzensprung zur Entlassung der Bache. Diese ihrerseits quittierte den
Vorgang mit dem Androhen von nächtlichen Rüsselattacken auf die Gärten.  Seit dem findet so mancher  Bürger morgens seinen Garten wie von Säuen durchpflügt.

Nun geschah es aber eines Tages, dass Rosalie sich in die Gefahr begab, ihre  Betriebsgeheimnisse auszuplaudern und zwar, als sie sich sinnlos mit Zwetschgenwasser betrank.  Nach ihrem freien Tag  fand man sie weder im Schiffgraben, noch im Garten.
Hatte sie sich mit all den unseligen Kenntnissen der feuchten Beichtgeheimnisse davongemacht, sich etwa an die Ortspresse gewandt? Ihre Vertrauensstellung schamlos ausgenutzt, Verrat begangen?  Endlich entdeckte man sie auf einem  Hinterhof.  Sie hatte sich auf die Hände fallen lassen, gab vor, ein vierbeiniges Tier zu sein, muhte grotesk und in falschen Tönen.  Es roch stark nach Zwetschgenwasser, und Rosalie genierte sich nicht einmal den Kunden ihre hellblauen Achseln zu zeigen. Sogar beide. Sie baumelte an der Teppichklopfstange und bot ein schamloses Bild. Ihre sonntäglichen falschen Wimpern hatte sie kurzerhand an die Stange geklebt. Zu dem Gejohle und Gemuhe tanzte sie einen Tango.  Heute wird ihr Blick ganz starr und leer, wenn man die Taktlosigkeit besitzt, sie an diese Entgleisung zu erinnern.

Nach diesem Ereignis fand man Rosalie viel damit beschäftigt in die Bibliothek zu fahren und dort unauffällig an den Buchrücken entlang zu schlendern, hin zu den Büchern der Moraltheologie.  Man konnte sie oft zitierend über den Rasen gehen sehen, jederzeit  bereit, graziös den Kopf zu neigen, wenn Nachbarn am Zaun entlangkamen, jederzeit bereit, ein paar Worte über das Wetter von sich zu geben. Vielleicht auch noch eine kleine Lebensweisheit, die sie aus ihren moralischen Büchern hatte. Sie verschwand nun öfter und tiefer im  Röhricht, wo man sie bei den Kaulquappen schnauben und röhren hörte.  Und die vertrauensbildenden Maßnahmen ließen die Kunden erleichtert ihre Dienste wieder in Anspruch nehmen. Vergessen war auch die Zeit, wo sie mit der Bache vor ihrem Arenawägelchen durch die Straßen geprescht war, sie anheizend und aufmöbeln laut geschrieen hatte: "Schneller, schneller!" Und vor allem vergessen die beschämende Szene an der Teppichklopfstange.
Rosalie war reifer und verständiger geworden. Das kam ihrer Arbeit zugute. Wo sie früher mürrisch Wasser ihren nächtlichen Kunden ins Gesicht gespritzt hatte, sollte es einer wagen, sie zu später Stunde zu belästigen, da setzte sie heute ein müdes Lächeln auf und hörte sich
geduldig die Klagen an. Nur durfte man sie von hinten, wenn sie schlief und auf dem Wasser trieb, nicht anschreien. Dann ging sie sang- und klanglos unter.  Dies tat sie übrigens auch, wenn man sie persönlich beleidigte. Sie ging einfach unter und kam nicht mehr hoch. Bei klarem Wetter sah man sie dann auf dem Grunde des Schiffgrabens  stehen, an das Röhricht  gelehnt und an einem Grashalm nagend. Ihre Lungen waren kräftig und ihr Ärger berüchtigt. Nur Blasen, die hochstiegen, verrieten, dass sie vor sich hinredete.  Wenn sie gebeugt und mit zerfurchter Stirn und den Händen auf dem Rücken den Schiffgraben entlang lief, dann war auch nicht gut Kirschen mit ihr essen. Sie brachte es dann fertig, hämisch einen falschen Rat zu geben, und bis spät in die Nacht konnte man ihr grölendes Gelächter hören, wenn sie sich vor Schadenfreude auf die Schenkel schlug, dass das Wasser hoch aufspritzte.  Somit setzte sie der Läuterung Grenzen. 

So hat Madame Solo doch nie  ein Sterbenswörtchen über die ihr anvertrauten Klagen und Geheimnisse ausgeplaudert. Der von von ihr abgelegte Eid des Hippopotamus war ihr stets heilig geblieben. Bekanntlich ist dieser Eid nicht nur für Nilpferde sondern auch für Seekühe bindend. In all den vielen Jahren war sie verschwiegen gewesen, wie es nur eine Seekuh sein kann. Und so steht sie im Schiffgraben zu Sacrow, zur Hälfte im Wasser, Symbol kühischer Weisheit, Eleganz und Nützlichkeit, quasi unbezahlbar.