Mittwoch, 29. Dezember 2010

SO EIN MENSCH

„Püppi, möchtest du nicht zu mir ziehen? Einen Mann werden wir für dich schon finden und eine Stelle auch. Vielleicht nicht hier, aber sicher in Stade oder Hamburg.“ Dann schwieg er. Ich zögerte einen Moment – er wartete. Und ich lehnte ab:
„Bitte, Papa. Ich hab doch einen Freund und eine sehr gute Arbeit.“
Ich legte auf und merkte, dass ich unsicher wurde. War seine Stimme nicht leiser als sonst? Schwächer? Aber zu ihm ziehen, in dieses Dorf auf dem platten Land? Wie stellte er sich das vor? Und dann dieser Begriff Stelle. Dazu kam auch immer eine Stube, wenn er mir in seinem Haus ein Dach über dem Kopf anbot. Wozu hatte ich studiert? Sollte ich mich wieder kleinmachen?

Meine Eltern lebten getrennt, meine Mutter und ich in Berlin und mein Vater in Osten an der Oste. Das O von Osten ganz lang gezogen. Ein hübscher kleiner Ort, direkt hinter dem Ostedeich, zwei Stunden von Hamburg aus, Richtung Cuxhaven. Gut für einen Wochenendausflug an die Nordsee, vielleicht eine Fahrradtour am Deich entlang. Leben wollte ich dort nicht. Am nächsten Tag rief meine Mutter an und sagte, dass Vater einen Schlaganfall gehabt hätte. Er war auf dem Deichweg zusammengebrochen und lag nun im Stader Krankenhaus. In nur wenigen Stunden hatte ich meinen Unterricht abgesagt, eine Vertretung organisiert und war unterwegs Richtung Norden. Meine Mutter wollte nicht zu mir ins Auto steigen und würde den Zug nach Hamburg nehmen. Von West-Berlin bis nach Osten waren es sechs bis sieben Stunden Fahrtzeit, ein Teil der Strecke über die Transitstraßen durch die DDR. Hier galt eine Geschwindigkeitsbegrenzung von 100 km/h. Ein gemächliches Tempo, bis auf die Momente, an denen ich dem bleihaltigen Auspuffgestank eines Trabbis durch Überholen entkommen wollte. Aber sonst: Musik hören, rauchen, meinen Gedanken nachhängen. Draußen flog die flache, märkische Landschaft vorbei.

Wir lebten in verschiedenen Welten, mein Vater und ich. Meine Mutter hatte es in meiner Kindheit nie gemocht, wenn ich Zeit mit Vater verbrachte. Sie war besorgt, dass er versuchen würde, mich für seine Religion zu gewinnen. So gab es nur einen Elternteil für meinen Bruder und mich in unserem Alltag: Mutter. An Feiertagen und Wochenenden war Vater zugegen, hielt Reden, las aus der Bibel vor oder zitierte sie auswendig. Aber habe ich ihn überhaupt richtig kennengelernt?

Er erkrankte an Polio als er elf Jahre alt war und hatte als viertes Kind eines Bahnschrankenhilfsanwärters in einem kleinen Dorf im Anhaltinischen keinerlei medizinische Betreuung. Ein Jahr lang lag er schreiend in seinem Bett, während sein linkes Bein abstarb. Es blieb für immer das schlaffe, leblose Bein eines Elfjährigen. Mein Großvater baute ihm ein Brett mit Rädern darunter, auf das er sich bäuchlings legen und mit den Händen abstoßen konnte. Als der 1. Weltkrieg vorbei war, lud sich Großvater seinen nun vierzehnjährigen Sohn auf den Rücken und schleppte ihn nach Berlin, zur Charité. Dort begann für meinen Vater ein neues Leben. Er bekam einen Gehapparat und durfte eine Ausbildung zum Orthopädiemechaniker und Bandagisten machen. So ließ er sein Dorf im Anhaltinischen hinter sich und suchte sich seinen Platz in der großen Stadt. Seine Rettung in der Charité hatte ihn religiös werden lassen, aber nicht ganz freiwillig. Vielmehr hatte mein Großvater eindringlich erklärt, ihm würde nur geholfen werden, wenn er gottgläubig würde.

Und so kannte ich ihn: Er betete bei Tisch, und auch wir wurden dazu angehalten. Ein groß gewachsener Mann mit vollem Haar, einem buschigen Schnurrbart, gestützt auf einen Stock, Schnürstiefeln mit dicken Sohlen als Ausgleich für das zu kurze linke Bein und einem Gehapparat, der beim Hinsetzen und Aufstehen immer laut knackte. Er hatte eine schöne, tragende Stimme, und ich neigte dazu, vor mich hinzudösen, den Inhalt völlig auszublenden und mich nur von dieser Stimme einhüllen zu lassen. Ich glaube, ich hätte ihn lieben können, aber ich durfte nicht. Wenn ich mich falsch verhielt, sagte mir meine Mutter, ich sei wie mein Vater – rücksichtslos und laut! Eine Steigerung der Schmähung war der Vergleich mit meiner Großmutter väterlicherseits. So wurde meine Mutter zu meiner großen Liebe und nicht mein Vater. Auch sie war aus dem Anhaltinischen, und das hörte man: „Lauter Fikukjen und Sperenzien! Iss deine Bemme und sei ruhig.“ Ordentlich, vernünftig und ruhig sein waren ihre erzieherischen Vorgaben, Vater sagte dazu meist gar nichts. Nur bei der Demut waren sie sich einig. Wenn man das Haus meiner Kindheit betrat, prangte unübersehbar ihr Leitmotiv auf einem Birkenholzbrettchen im Korridor an der Wand: „Wie klein das ist, was einer ist, wenn man’s an seinem Dünkel misst“.

Vater war ein unruhiger Mensch, einer, der immer auf der Suche nach einem Zuhause war. So zogen wir alle paar Jahre um, und wir Kinder wechselten dann die Schule, verloren alle Freunde und begannen uns heimatlos zu fühlen. Seit einigen Jahren nun lebte er in Osten an der Oste. Ein schöner roter Backsteinbau auf dem Deich, eingebettet in den Ort, sowohl die Schwebefähre über die Oste, als auch die Kirche in Sichtnähe.

Ich fuhr Richtung Westen, der Sonne entgegen. Sie blendete mich. Bei Marienborn fuhr ich über die deutsch-deutsche Grenze, rollte langsam in das Niemandsland ein. Es war kaum möglich, die vorgeschriebenen zehn km/h einzuhalten. Plötzlich knallte es laut, die Windschutzscheibe riss in dünne Spinnenfäden! Ein Stein hatte sie getroffen. Was tut man in so einem Falle? Mit den Ferngläsern der Volkspolizei im Rücken fuhr ich betont langsam weiter. Auf der Westseite, in Helmstedt, konnte ich endlich anhalten. Schlug die Scheibe ganz raus und besorgte mir in der nächsten Tankstelle Klarsichtfolie, die ich über den Rahmen klebte. Dann eine Telefonzelle suchen und Werkstätten anrufen. Erst in Braunschweig fand ich eine, die mir zusagte, sie würden mir sofort eine neue Scheibe einsetzen können. Schritttempo bis Braunschweig, ungeduldiges Warten auf die Reparatur. Vater hatte auch einen Führerschein, obwohl er mit seinem Gehapparat die Pedale nicht bedienen konnte. Er hatte sich in unseren alten Opel eine Handschaltung für Gas, Bremse und Kupplung einbauen lassen.

Ich hatte Zeit verloren, drückte aufs Gas, erreichte die Bundestrasse 74, die bis nach Cuxhaven hochgeht. Viel befahren, eine lange Schlange ungeduldig hupender und drängelnder Autofahrer, vielleicht auf dem Heimweg von der Arbeit in Hamburg. Am Straßenrand wiederholt Holzkreuze für Verunglückte. Bei jedem Treffen mit Vater in Osten, oder auch mit seinem Bruder auf der anderen Seite des Flusses, in Hemmoor-Basbeck, wurde zu Kaffee und Kuchen aufgezählt wie viele, meist junge, Menschen wieder an einen Baum geprallt waren. „Das ist ein deftiger Schlag, die Familie deines Vaters“ würde meine Mutter dies kommentieren.

Ich fuhr an Stade vorbei, sah von der Straße aus das Krankenhaus, hoch oben, mit Blick zur Bundesstraße. Morgen würde ich ihn mit Mutter besuchen, gleich nach dem Abholen vom Basbecker Bahnhof. Durch Hemmor-Basbeck hindurch, dann über die breite Brücke nach Osten. Ich konnte das Haus schon sehen, und plötzlich fühlte es sich wie Zuhause an. In der unteren Etage wohnte Herr Hubert, Vaters Mieter. Er ließ mich herein, wir wechselten ein paar Worte: „Ihr Vater war auf dem Weg zum Mittagessen im Fährkrug, als er zusammenbrach. Ich habe den Notarzt gerufen.“ Vielen Dank auch. Ich ging nach oben, zog die Tür hinter mir zu, öffnete alle Fenster zur Oste hin und setzte mich erschöpft. In der Dämmerung strömte der Fluss langsam an unserem Haus vorbei, braun und still. Schlickhaltiger und mit Schilf bewachsener Uferrand. Er hat eine Tide und wechselt alle sechs Stunden die Richtung: Hin zur Nordsee und wieder zurück ins Land zur Quelle. Ich griff in das kleine Bücherregal neben dem Wohnzimmerfenster, konnte gerade noch die Buchtitel erkennen. Die Bibel, Atlanten, die „Religionen dieser Welt“, Bücher über Botanik. Ich sah ihn vor mir, wie er durch den Garten hinkte, eine Gießkanne in der Hand, sah im Haus meiner Kindheit den Topf mit den eingeweichten Eierschalen auf dem Fensterbrett in seinem Zimmer. Es stank, aber es war guter Dünger. „Komm Püppi, dünge doch bitte die Johannisbeerbüsche.“ Na danke, da verzog ich immer das Gesicht. Ich war ein Stadtmensch, ich hatte keine Zeit für einen Garten. Obst und Gemüse kaufte ich im Supermarkt.

Am nächsten Tag holte ich Mutter vom Bahnhof ab. Meine schöne, kleine Mutter. Sie ist immer das kleine Mädchen geblieben, das sie war, als ihre Mutter starb. Auch als erwachsene Frau, selbst bei den härtesten körperlichen Arbeiten, konnte ich das Kind in ihr spüren. Sie trug Rüschen an allen Kleidern und Schuhe mit hohen Absätzen, am liebsten knallrot. Hatte rabenschwarze, wilde Locken und grüne Augen. Ich kannte alle ihre Leidensgeschichten und habe sie mit ihr geteilt. Die Ehe mit meinem Vater erlebte sie als Qual, sie fühlte sich ausgenutzt und lieblos behandelt. Ich konnte daran nichts ändern, ihr nur meine Liebe geben.

Im Stader Krankhaus nahm ich dann endlich meinen Vater in den Arm. „Dass ihr da seid, ich bin so froh“ verstanden wir, das Sprechen fiel ihm schwer. Er wusste nicht, wo er war, konnte sich an nichts erinnern. Aber er schaute zum Fenster und sagte „Die Straße nach Berlin.“ Er hatte einen großen Bluterguss am Hals. Der Arzt erklärte uns, dass sie eine Gefäßdarstellung gemacht und einen Tumor im Kopf entdeckt hätten, viel zu groß, um ihn noch operieren zu können. Nun wussten wir, dass er es nicht überleben würde. Abends saßen Mutter und ich im Wohnzimmer und besprachen, was wir alles tun müssten. Es war meine erste Beerdigung und außer schwarzer Kleidung und einer Grabstelle fiel mir nichts ein. Aber dann wurde die Liste immer länger, und wir sammelten Adressen für Benachrichtigungen der Verwandten und Bekannten, entwarfen einen Text für eine Anzeige, trugen Stationen seines Lebens zusammen für die Grabrede, suchten nach Vaters persönlichen Papieren, blieben in Schubläden hängen: Was sind das für Tabletten? Hat er denn immer Schmerzen gehabt? Warum haben wir nicht bemerkt, dass er einen Tumor hatte? War er denn so vergesslich?

Am darauf folgenden Tag kam mein Bruder aus Frankfurt, ich holte ihn in Hamburg vom Flughafen ab. Im Krankenhaus standen wir drei nun an Vaters Bett. Er hatte seinen Sohn seit mehreren Jahren nicht gesehen, auch seine Enkelin kannte er nicht. Ach, Papa. Ich kämmte ihm die Haare und reinigte seine Fingernägel. Mutter und Bruder weinten, verließen das Zimmer. Und ich überwandt alle Scheu, die Hemmungen von jahrzehntelanger Abkehr von ihm und sagte „Papa, bitte werde wieder gesund, wir brauchen dich doch. Ich habe dich so lieb.“

Am nächsten Tag hatte er Fieber und wurde an einen Tropf gehängt. Nach einem weiteren Tag waren seine Augen weit aufgerissen, sein Mund blieb offen, und ein Arm stand starr in der Luft. Er starb, ohne dass ich bei ihm war. Ich kam fünf Minuten zu spät. Aber sein Sohn hielt seine Hand.

Aufbahrung in der Friedhofskapelle. Ein kahler, weißgetünchter Raum mit einem Fenster. Nur Platz für den offenen Sarg. Auf weißer Seide schlohweißes Haar. Atmete er nicht doch noch? Seine Haut war gelb, die Hände ineinander gefaltet, die Fingerkuppen blau, seine geschlossenen Augen tief eingesunken. Ich hatte gehofft, ihn so zu sehen, wie er noch vor wenigen Tagen ausgesehen hatte: sanft, weich, fast kindlich. Wo zeigte sich die letzte Ruhe? Er sah nur erschöpft aus. Draußen brauste der Wind laut, hier drinnen war es einsam und kalt, kalt bis in meine Knochen. Der kälteste und einsamste Ort, den ich je sah. Ich hielt mich an einem Gedicht fest: Man kann reiten und fahren, zu zwein und zu drein. Den letzten Weg muss man gehen allein.

Auf der Heimfahrt nach Berlin blieben meine Gedanken bei ihm. Er war mir vorangegangen, den Weg, den wir alle gingen. Würde er mich erwarten, wenn ich so weit wäre? War ich ihm ähnlich, würde ich ihm sogar immer ähnlicher werden, ohne mein Zutun? Häuser und Gärten lieben, einen grünen Daumen entwickeln? Der Gedanke tröstete mich. Auf einem Rastplatz hielt ich an, faltete unauffällig meine Hände. Bis ich Ruhe in mir fühlte. Ich war durch mein Leben ohne Vorbilder gegangen, hatte mir immer hier eine Erkenntnis, dort etwas Weisheit geholt. Bei Menschen und aus Büchern. Die besten Erkenntnisse aber waren die, die ich auf dem Wege der Erfahrung selbst gesammelt hatte. Sie waren es, die ich verinnerlicht hatte. Mein Vater hatte an Gott im Himmel geglaubt, aber ich wusste, dass wir alle ein winziges Stückchen Gott in uns trugen, so wie jeder Mensch immer seine Mutter und seinen Vater in sich trug und doch nicht ihr Abbild, sondern ein eigener Mensch war.