Freitag, 12. November 2010

ICH LESE, ICH HABE GELESEN


Bei meinen Buchbesprechungen beziehe ich mich gelegentlich auf den Begriff „Show, don’t tell“.  Besonders gut vermittelte die Bedeutung dieses Begriffes Paul Schuster in seinen „39 Goldenen Regeln“.  Deshalb stelle ich diese hier voran:

12 Zeigen 
Zeigen Sie! Aber nicht auf sich selbst. Was Sie selber gesehen, gehört, gefühlt und gedacht haben, kann andere nur dann ansprechen (anzupfen), wenn Sie es für Ihren Zuhörer, Ihren Leser sichtbar, hörbar, fühlbar, denkbar machen.

13 Gefühle 

Ein häufiger Irrtum besteht in der Vorstellung, man könne Gefühle be­schreiben. Man kann sie nicht beschreiben, aber man kann sie übertragen, vermitteln, indem man die Umstände beschreibt, die sie ausgelöst haben, oder indem man sie über ein Bild ausdrückt.





1.   Jenny Erpenbeck „Heimsuchung“, Eichborn Verlag


Jenny Erpenbeck ist für mich eines der größten literarischen Talente der modernen deutschen Literatur. Sie erzählt die Geschichte eines Hauses mit zwölf Lebensgeschichten durch alle Phasen Deutschlands. „Heimsuchung“ ist zwischen zwei Buchdeckeln ein Zuhause für die Sehnsucht nach einer Heimat und eine Suche, die schwer auf der Seele liegt.  Ich habe dieses Buch nicht aus der Hand legen können, weil auch ich zu den Suchenden zähle, aber vor allem, weil ihre Sprache sich festsetzte, in meinem Ohr und  in meinem  Herzen. Einmal noch geht er die Treppe hinauf, sie knarrt bei der zweiten, siebenten und der vorletzten Stufe, geht am Zimmer seiner Frau vorüber, aus dem riecht es so, wie immer, nach Pfefferminz und nach Kampfer. Der Weg zu seinem Atelier führt durch das dämmrige Schrankzimmer, ein kleines Fenster hat er dort eingebaut, halbrund, vom Strohdach beschattet wie ein Auge, vor kurzem erst ist ihm an diesem Fenster ein Marder erschienen...im Gebälk hört er die Marder scharren.
Ganz besonders habe ich den Prolog, über die Entstehung des Sees, an dem dieses Haus steht, geliebt. Jenny Erpenbecks Sprache ist wohl das, was man mit „Show don’t tell“ meint: der Leser sieht, hört, riecht und fühlt alles selbst, ohne dass die Autorin es einem in den Mund legt.


2.  Sabine Bode „Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen“

Ein Sachbuch, das mir in der Aufarbeitung meiner Biografie sehr geholfen hat.
Sabine Bodes Recherche legt den Fokus auf die Generation der zwischen 1930 und 1945 geborenen Deutschen. In ihrem Vorwart sagt sie „Es dauerte eine ganze Weile, bis ich begriff, dass es sich bei den Jahrgängen von 1930 bis 1945 in  Wahrheit um mehrere Generationen handelt. Denn es macht einen großen Unterschied, in welchem Alter ein Kind diesem Krieg ausgeliefert war: ob als Säugling, als Kleinkind oder vor oder nach der Pubertät.“ Millionen von Deutschen haben noch den Bombenkrieg, die Vertreibung und den Verlust der Väter in ihrer Erinnerung. Da ich das aber nicht mehr direkt erlebt habe, wurde ich erst fündig, als es um die Erziehungsmethoden im 3. Reich ging. Und somit öffnete mir das Kapitel „Nazi-Erziehung: Hitlers willige Mütter“ die Augen. Die Erziehungsmethoden einer gewissen Johanna Haarer hatten nicht nur in den 30er und 40er Jahren Kinder verbogen, sondern noch viele Jahrzehnte danach. Erst mit der 68er Generation wurde erneut darüber nachgedacht, dass es keine „Affenliebe“ ist, wenn man einen Säugling nicht schreien lassen will, wenn man ihm nicht „seinen Willen brechen will“, wenn es außer Sauberkeit und Ruhe noch andere Ziele in der Erziehung gibt. Ich habe viele Mütter wiedererkannt, die die Liebesunfähigkeit ihres Kindes verursachten, die ihre Kinder nicht wirklich „riechen“ konnten. Und habe so nachträglich erkannt, dass der Faschismus im ganz Kleinen seinen Ursprung nimmt und dass er sich noch Jahrzehnte lang  in unseren deutschen Köpfen gehalten hat.


3.   Michel Friedman „Kaddisch vor Morgengrauen“, Aufbau Verlag

Da ich an einem Roman über eine jüdische Familie arbeite, war es nur folgerichtig, dass ich mir auch dieses Buch kaufte. Ich glaubte den Autor aus dem Fernsehen zu kennen, wo er ein häufiger Gast bei Talkshows ist. Wie immer er sich dort  präsentiert, dieses Buch hier zeigt einen anderen Michel Friedman.  Ich gehe davon aus, dass ein Großteil dieses „Romans“ autobiografisch ist. Julien, der Hauptprotagonist, erzählt seinem kleinen Sohn von dessen Großeltern und von dem Leben seines Vaters. Er schreibt leidenschaftlich und liebevoll, ohne dabei kitschig zu werden. Seine Sprache ist knapp, aber bildhaft, mit vielen inneren Monologen.  Auch dieses Buch konnte ich nicht zur Seite legen, weil es mich wie in einen Sog zog. Der Grund dafür ist dieser ununterbrochene Erzählstrom, diese Erzählstimme in der Ichform. Sie ist überzeugend und fesselnd.  Als ich Wochen später diese kleine Kritik schreiben wollte, konnte ich mich allerdings nur noch an die eigentliche Kernsequenz, die Totenwache, das Kaddisch, erinnern. Was bis heute aber haften blieb, ist das Bild von Michel Friedman selbst, so wie er sich in diesem Roman darstellt.  Im gewissen Sinn ist dies das genaue Gegenteil zu Jenny Erpenbeck, die durch ihre Bücher nur wenig durchschimmert. Dafür glaube ich einen literarischen Grund gefunden zu haben: So wie Jenny Erpenbeck „Show don’t tell“ schreibt, schreibt Michel Friedman hauptsächlich „Tell don’t show“. Die Kaddisch-Sequenz aber ist so geschrieben, dass hier der Icherzähler nicht von seinen Gefühle erzählt, sondern man sie als Leser selbst ableiten kann. Aber der große Bogen dieses Romans  wird erzählt.  Und das macht der Autor gut. So gut, dass er eigentlich auch Schriftsteller werden könnte. Dann allerdings würde ihm eine große Prise „Show don’t tell“ gut tun.


4.   Ferdinand von Schirach „Schuld“, Verlag Piper

Ferdinand von Schirach arbeitet als Anwalt und Strafverteidiger in Berlin.
Fünfzehn Geschichten über Schuld, Leid und Strafverfolgung werden literarisch entwickelt und erzählt, mit dramatischen Wendepunkten und einem Plot. Letzteres wurde vom Leben geschrieben – nehme ich an. Gleich die erste Geschichte versetzte mir einen Schlag in den Magen. Die fröhliche Biederkeit der neun Männer einer Blaskapelle schlägt um in animalische Triebe und Frauenverachtung. Danach legte ich das Buch erst einmal beiseite. Die Geschichten sind kurz und eignen sich gut für das tägliche Lesen. Ich allerdings musste bei jeder Geschichte so schlucken, dass es für mich keine Bettlektüre wurde. Ich ziehe meinen Hut vor dem Autoren, aber weiß auch, dass er nicht zu meinen Lieblingsschriftstellern zählen wird.


5.   Herta Müller  „Atemschaukel“

Der Literaturnobelpreis ging in 2009 an Herta Müller. Ich hatte noch nie etwas von ihr gehört. In den Printmedien wurden besonders ungewöhnliche Textpassagen abgedruckt, und ich fühlte mich nicht motiviert, dieses Buch zu kaufen. Doch eines Tages kaufe ich es doch und das Unerwartete geschah: Gleich der erste Satz nahm mich gefangen. Alles, was ich habe, trage ich bei mir. ..."Der Schweinslederkoffer war ein Grammophonkistchen. Der Staubmantel war vom Vater. Der städtische Mantel mit dem Samtbündchen am Hals vom Großvater- Die Pumphose von meinem Onkel Edwin."

Ein Siebzehnjähriger erzählt, wie er deportiert wird, zuerst noch erpicht darauf, endlich sein Zuhause verlassen zu können. In der ersten Person Einzahl beschreibt er alle Details der Deportation, der Zugfahrt, des Ankommens, des Hungers, der Arbeit, der Kälte. Alles, was eigentlich stumpfsinnig sein müsste, verschlinge ich beim Lesen! Zuerst knicke ich die Seiten, damit ich später besonders gute Formulierungen wieder finden kann, gebe das aber bald auf. Es gibt NUR atemberaubend poetische Formulierungen. 

Wenn Herta Müller über den Hunger schreibt, zieht sich das über viele Seiten hin, und nie wird es langweilig. "Wenn ich nichts zum Kochen hatte, schlängelte mir der Rauch durch den Mund. Ich zog die Zunge einwärts und kaute leer. Ich aß Speichel mit Abendrauch und dachte an Bratwurst."

Sechs Seiten nur über ZEMENT. Hunger bietet sich natürlich schon poetisch an, aber Zement? 

"Man musste sich in acht nehmen vor dem Zement, er konnte zum Alptraum werden. ... Der Zement ist ein Betrug wie Straßenstaub, Nebel und Rauch – er fliegt in der Luft, kriecht auf der Erde, klebt an der Haut. Überall ist er zu sehen und nirgends zu fassen. ... Der Zement frisst das Zahnfleisch wund. Wenn man den Mund öffnet, zerreißen die Lippen wie Zementsackpapier."

Eine atemberaubende Sprache, sowohl knapp als auch poetisch.  Ich konnte dieses Buch nur häppchenweise lesen, weil ich jedes Wort einzeln inhalierte. Es ist kein Roman im üblichen Sinn, kein Buch das man in einem Stück durchliest. Eher eine Sprachkreation, bei der die Neologismen daherkommen wie ein raffiniertes Dessert. Etwas für Sprachgenießer.
6.   Bernhard  Schlink „Sommerlügen“, Diogenes Verlag

Mein augenblicklicher Lieblingsautor, einer, der mich tagelang begleiten kann.
Die kleinen, „schwermütig schönen Erzählungen“ (Klappentext) eignen sich gut für eine tägliche Leseportion. Was mir unter anderem besonders gut gefällt, ist die Perspektive des männlichen Erzählers, die mir die Ängste der Männer näher brachte. Einer der Protagonisten empfand sich z. B. „ als nicht besonders begehrensstark“, als eine Frau ihm zeigte, dass sie ihn begehrte – ein Wort und ein Gefühl, dass mich tagelang beschäftigte.  Da war die Angst davor, die eigene Welt aufgeben zu müssen und dafür lieber auf die Liebe zu verzichten. Angst vor Auseinandersetzungen und  Angst, die Freiheit zu verlieren. Viele dieser Ängste hat jede Frau schon bei geliebten Männern erlebt, aber hier werden sie alle nachvollziehbar erzählt, ohne dabei weinerlich zu werden. Besonders berührt hat mich u.a. diese Passage: Das Gefühl, dass ich einer Frau nicht widersprechen, ihr nichts abschlagen darf, dass ich ihr gegenüber aufmerksam und zuvorkommend sein, mit ihr flirten muss – ich denke, es hat mit meiner Mutter zu tun. Ich habe es immer, und ich verhalte mich automatisch so, ob mir die Frau gefällt oder nicht, ob ich was von ihr will oder nicht. Dadurch wecke ich Erwartungen, die ich nicht erfüllen kann; eine Weile versuche ich’s trotzdem, aber dann wird es mir zu viel, und ich stehle mich davon, oder die Frau wird es leid und zieht sich zurück. Das ist ein dummes Spiel, und ich sollte lernen, es zu lassen.
Die ersten beiden Geschichten, „Nachsaison“ und „Die Nacht in Baden-Baden“, waren meine Favoriten!  Schlink schreibt sowohl „Show don’t tell“, wenn er in einzelne Szenen einsteigt, als auch „Tell“, wenn er über längere Passagen nur erzählt. Letzteres hat mich gelegentlich ermüdet. Gleichzeitig hat es mich ermutigt, endlich selbst zu meiner Erzählstimme zu finden und mich nicht immer nur von Szene zu Szene zu hangeln, um „Show don’t tell“ einzuhalten.