Dienstag, 14. Juni 2011

GRAUE VORZEITEN

Es war einmal vor langen Jahrhunderten, in grauen Vorzeiten, die aber nicht grau, sondern grün waren. Grün die Wiesen, Wälder, Sümpfe und der Dschungel. Wo heute Städte und Menschen sind, da gab es damals Tiere. Auch solche, die es heute nicht mehr gibt.

Mitten unter ihnen Puff, ein Zauberdrachen und sein Freund, ein kleines, weißes Einhorn. Puff hatte einen farbig schillernden Schwanz, der mit stufenförmigen Zacken besetzt war. Aus seinem Rachen konnte er Feuer speien, je nach Lust und Laune in einer anderen Farbe. Er war ungeschickt und trampelig, doch das machte er durch seine Zauberkünste wieder wett. Wenn er etwas zertreten hatte, wedelte er mit seiner Schwanzspitze einmal drüber, und es war wieder heil. Mehr zaubern konnte er nicht. Es reichte auch.

Das kleine, weiße Einhorn war nur so groß wie eine von Puffs Vorderpfoten. Es konnte sich nach Herzenslust an seinen schuppigen Beinen kratzen, und dabei verfingen sich seine
Stirnlocken oft in den Schuppen. Dann schimpfte es, dass der Drache so ungepflegt war. Aber sonst waren beide unzertrennlich. Sie rollten und tollten, das Einhorn galoppierte den Rücken
des Drachen rauf und runter, und gab es mal einen Kampf mit einem Saurier, setzte sich das Einhorn auf den Kopf des Drachen und senkte die Stirn zum Angriff. Der Feueratem, das bohrende Horn und der Stufenschwanz schlugen alle in die Flucht.

So hatten sie nie um ihr Leben zu fürchten. Es gab für sie unzählige Bäume und fettes Gras zum Fressen und einen weißen Badestrand zum Spielen. Nie gab es etwas Wichtigeres als alle ihre Spiele: die Balanceakte des Einhorns auf der Spitze des Stufenschwanzes, das Bäumeausreissen, Anbohren und Verkohlen und das Muschelaufpiecken mit dem gezwirbelten Horn.

Eines Tages kam der große Regen. Es war Noah, der wusste, dass aus dem Regen eine Sintflut werden würde und der darum alle Tiere auf seiner großen Arche retten wollte. Zwei bei zwei führte er die Tiere auf sein Boot. Er vergaß keines: die Elefanten, die Krokodile, die Vögel, die Schlangen, die Löwen und Tiger gingen über den Bootssteg, der von ihren Schritten widerhallte. Bis in den nahe gelegenen Wald drang ihr Brüllen, Schnattern und Dröhnen.

Das Einhorn hob seinen Kopf, das heißt es bohrte ihn aus einem Baum heraus und lauschte. Auch Puff, der emsig den Baum ankohlte, hörte auf Feuer zu speien. Sie galoppierten auf
die Waldschneise und sahen die Arche.

Der Himmel war bleigrau, und unaufhörlich strömte der Regen auf die Erde nieder. Um die
Hufe des Einhorns bildeten sich kleine Seen. Es scharrte unschlüssig im Matsch, stupste den Drachen, und dann stoben beide in den Wald zurück. Noahs beschwörendes Rufen hallte hinter ihnen her.
"Herbei ihr Tiere groß und klein! Steigt alle in die Arche ein!"
Er war ein pflichtbewusster Mensch, und so drängte er den Drachen und das Einhorn, obwohl er Angst hatte, er könnte mit dem Horn das Boot anbohren oder der Feueratem es verbrennen. Doch die beiden meinten, es gäbe noch so viel zu tun. Der zuletzt angebohrte Baum stand erst halbverkohlt in seiner vorsintflutlichen Umgebung.

Und mit Horn und Feueratem führten sie ihr zerstörerisches Werk fort. Noahs Rufen war hier, im tiefen Wald, nicht mehr zu verstehen. Puff peitschte das Wasser um sich herum auf, dass es nur so sprühte. Sie suhlten und sie rollten sich, die nassen Zweige schlugen ihnen um die Ohren.

Doch als das Wasser dem viel kleineren Einhorn bis zum weichen, weißen Bauch reichte, befiel es Furcht. Es kletterte auf Puffs breiten Stufenrücken und ließ sich tragen. Der Zauberdrache bekam eine besorgte Falte auf der Stirn und lief zur Lichtung. Sie sahen die Arche davon schwimmen, überladen mit Tieren. Affen hingen an den Außenwänden und ihre Arme dehnten sich entsetzlich aus, den Pelikanen beulte sich der Kropf vom Fahrtwind und die Kängurus hingen mit den Hinterbeinen über Bord, so dass ihre Vorderpfoten getreten wurden und sie sie später nie mehr zum Laufen benutzen konnten, sondern nur noch mit den Hinterbeinen sprangen. Aber was tat’s, sie waren gerettet!

Den Drachen packte schiere Furcht, das Einhorn zitterte und stieß klagende Laute aus.
Sie wateten ein Stück dem Boot hinterher, doch bald blieben sie stehen. Der Regen fiel von Minute zu Minute stärker, die Wolken senkten sich tiefer, und die Arche entschwand immer schneller ihren Blicken.

Von einem Hügel aus sahen sie ihr hinterher, bis sie nur noch ein Punkt am Horizont war. Hinter ihnen, im Tal, ertranken die Saurier. Träge und faul hatten sie sich bis zuletzt nicht um Noah geschert.

Das kleine Einhorn klagte laut und bot einen traurigen Anblick, ganz nass und verloren auf dem Rücken des Drachens, hoch oben auf dem Hügel.

Da ertrank auch der Drache. Sein bunter Stufenschwanz durchfurchte verzweifelt das Wasser, aber seine Zauberkraft ertrank mit ihm. Das kleine, weiße Einhorn wurde in den Sog des versinkenden Drachens gezogen. Nur ein paar Sekunden lang drehte sich noch das gezwirbelte Horn im Sog.

Und von da an waren die Vorzeiten wirklich grau.