Samstag, 13. Dezember 2014

IN THERESIENSTADT



(Nach der Einweisung, der so genannten ‚Schleusung’, waren Elsa und Paul getrennt worden. Paul ging es nicht gut, er litt ohne Elsa.)

Wieder nur Matratzen auf dem Fußboden, neben vierzig anderen Männern. Nur eine Wolldecke hatte man ihm gelassen, und in den Nächten war es schon sehr kalt. In dieser ersten Woche in Theresienstadt versuchte er, sich zu orientieren, Überlebensstrategien zu entwickeln. Wann und wo wurde Essen ausgeteilt, wo gab es Toiletten und Waschräume?

Aber er verlor jeden Tag ein Stückchen seiner Kraft. Fieber und Kopfschmerzen stellten sich ein und ein unstillbarer Durst. Wo war Elsa, wie ging es ihr? Nachts, wenn der Gestank und die Geräusche der Männer um ihn herum am schlimmsten waren, lag er mit offenen Augen da und wurde in die Vorwürfe, die er sich selbst machte, wie in einen Sog gezogen. Trockener Mund, aufgeplatzte Lippen. Schmerzen im Unterleib. Was hatte er falsch gemacht? Bestrafte ihn Gott hier?

Es war alles umsonst gewesen. Seine Arbeit, die Firmen, die er aufgebaut hatte, sein guter Name als Innenausstatter und Möbeldesigner – alles war ihm genommen worden. Wären sie doch 1935 ausgewandert, als Martha mit Max und Lilli Deutschland verließen.

In der Woche danach setzte der Durchfall ein und kleine, rote Flecken übersäten seine Haut. Er wurde in das Siechenheim in der Jäger-Kaserne gebracht. Und blieb dort in seinem eigenen Schmutz liegen. Um ihn herum stöhnten Menschen, riefen nach Gott und nach ihrer Mutter. Ein Rabbi kniete bei dem Sterbenden auf der Matratze neben ihm. Das Kaddisch wurde leise gemurmelt : Jitgadal w’jitkadas, Schm’meh rabah, b’Alma di hu Atid I’it’chadata. Würde der Rabbi auch zu ihm kommen? Zu ihm, der schon lange seinen mosaischen Glauben abgelegt hatte? Der seit seiner Kindheit nie mehr in die Synagoge ge-gangen war? Ein heftiger, reißender Schmerz durchzuckte seinen Bauch, eine tiefe, abgrundtiefe Übelkeit schüttelte ihn und trug ihn fort,aus seinem Körper hinaus. Nichts bleibt, außer meinen Gefühlen, meinen Erinnerungen und den Bildern in mir. Den letzten Weg geht man allein.

Der Tod lässt ihn noch einmal sein Leben sehen. Er sieht sich mit der Familie in Sacrow am Wasser sitzen, sieht Elsa, die auf dem Anhalter Bahnhof auf ihn zuläuft, überglücklich und erwartungsvoll, und immer wieder in einer Collage von Bildern und Gefühlen die Häuser,an denen er gearbeitet hat, die Intarsienverkleidungen des Stadttheaters in Bremerhaven, das Café des Westens auf dem Kurfürstendamm und die Wandelhalle des Haus Cumberland. Er fühlt ihre polierten Mahagoni Oberflächen unter seinen Händen. Elsas Hand berührt ihn, er streicht über Lillis wilde Locken. Ja, er wird sie alle wieder sehen. Er würde dieses Leben sogar noch einmal leben – es war ein gutes Leben gewesen. Voller Liebe, Schönheit und Arbeit, auch ohne Gott.

Am Morgen kam eine Krankenschwester und wickelte ihn in sein Laken, damit er in die Leichenhalle getragen werden konnte. Meldete der Verwaltung die Anzahl der in der Nacht Verstorbenen und deren Namen, auch den von Paul Jakob Redelsheimer.


"Über das Sterben",In Theresienstadt









Freitag, 12. Dezember 2014

STERBEN IST NICHT FÜR IMMER

Dieser Text erscheint im E-Book "1000 Tode", 2. Band, vom Frohmann Verlag (auch in Leipzig auf der Buchmesse 2015)


Lange war ich die Kleinste und Jüngste gewesen, die, deren Leben noch vor ihr lag.

Jetzt war ich die Älteste, umgeben von Jüngeren, deren Leben noch vor ihnen lag.

Vor mir keine ältere Generation mehr. Ich war an der Reihe, mein Abschied war näher gerückt.

Vielleicht würde ich meine letzte Sekunde auf weichem Erdreich liegen, den Duft des frischen Bodens einatmen, nach einem warmen Sommerregen.

Oder auch in meinen Träumen verbleiben – da wo ich sonst im Traum lebe: In einer Stadt, die am Meer liegt, über dessen Buchten ich schon oft geflogen bin. Ich kenne die Straßen, die Hügel, die Häuser. Von dort komme ich und dorthin würde ich zurückkehren.

Und alle, die ich liebe, würden mich dort erwarten. Jeden Menschen sähe ich so, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Und jeder andere Mensch sähe auch mich so, wie er mich in Erinnerung hatte. Das wäre eines der Geheimnisse dieser anderen Welt.

Und dann käme ich erneut auf die Erde, mit dem Wissen und Können in mir, das ich im Hier und Heute erworben habe. Mit all den Antworten, die ich gefunden habe und mit der Aufgabe, weitere zu lösen.

So würde ich mich um die Welt bewegen und es wäre mir eine Freude.

"Über das Sterben",Sterben ist nicht für immer