Freitag, 27. August 2010

Der Birkenbär

Ein schneeweißer Birkenbär saß lange Jahre unauffällig in seiner Birke, so wie es viele Birkenbären im ganzen Land tun. Im Sommer schmiegte er sich eng an den Stamm und die Äste, im so genannten Birkensommerschlaf. Im Winter, wenn Schnee gefallen war, konnte er sich freier zwischen den kahlen, weißen Zweigen bewegen. Seine dunklen Augen wurden von den uneingeweihten Menschen für Birkenflecken gehalten.

Eingeweihte Menschen sind die, die verkehrt herum sehen können. Und für sie war der Bär in der Birke. Er diente der Schärfung ihrer Sinne, in dem er in immer neuen Stellungen zwischen dem Blattwerk und den Ästen herumturnte. Hatten sie ihn erspäht, waren die Eingeweihten beglückt, denn Verstecktes zu erkennen, bedeutete, einen Blick für das Wahre und Schöne zu haben. Und dies wiederum machte sie zu etwas besonderem gegenüber den uneingeweihten Menschen, die sich mit solchen mentalen Übungen nicht abgaben.

Seine Birke war irgendwann einmal beschnitten worden, damit sie nicht zu groß werden konnte. Die uneingeweihten Menschen hatten befürchtet, ihre Äste könnten das Dach ihres Hauses beschädigen. Und ihr herunterfallendes Laub machte ihnen zu viel Arbeit. Aus den Schnittstellen heraus wuchsen die Zweige in neue Richtungen, gaben der Birke ihr besonderes Aussehen. Sie wurde eine schöne, ungewöhnliche Birke, mit vielen Biegungen und Astgabeln, auf denen man gut schlafen konnte.

Ein Birkenbär ernährt sich von Erdbeeren und Fischen. So ist es von der Natur angedacht. Wenn sie als philosophisches Vexierbild in der Birke gearbeitet haben, steigen sie selbstbewusst herunter und begeben sich in die Erdbeerbeete und an die Seen zum Fischen. Das ist ihr Werdegang.

Dieser Bär aber hatte nicht den Mut, sich zu zeigen. Er kam nur seinen Vexierbildpflichten auf dem Baum nach und nahm sich nicht den ihm zustehenden Lohn. So musste er sich seine kärglichen Mahlzeiten aus der Mülltonne fischen, die direkt unter der Birke stand. Er tat dies meist nachts, damit ihn niemand sah. Manchmal klapperte er dabei mit dem Deckel und weckte die Menschen auf. Wenn sie misstrauisch angelaufen kamen und mit einer Taschenlampe alles ausleuchteten, hatten sie auch schon das eine oder andere mal in die Birke hoch geleuchtet, ihn aber nicht gesehen, weil er eng an den Stamm geschmiegt war. "Diese Birke ist so komisch dick" brummelten die Menschen, "aber immer an verschiedenen Stellen!" Sie wurde ihnen unheimlich.

Der Birkenbär selbst aber war natürlich nicht dick, es sah nur so aus. Er war sogar dünn, weil er immer hungrig nach Erdebeeren und Fischen war. Hunger und Sehnsucht verzehrten ihn fast. Er träumte davon, sich vorsichtig mit seinen großen Tapsen durch die taufrischen Erdbeeren zu bewegen, so gegen 5 Uhr früh, wenn die Sonne aufgeht und noch kein Mensch sich am Mülleimer oder im Garten zu schaffen macht.

Ja, er konnte die Süße der Erdbeeren fast schmecken, während er so in seiner Birke lag. Und da konnte es passieren, dass es aus seinem Maul tropfte und unter dem Baum die Briefträgerin traf, die unglücklicherweise diesen Briefkasten neben dem Mülleimer zu bedienen hatte. "IIHH!" schrie sie dann und konnte sich diese nassen Tropfen nicht erklären.

Aber noch schöner waren seine Träume von den Fischen! Er würde mit ihnen im klaren, kühlen Wasser schwimmen, sich auf den Rücken sühlen, sich ganz lang ausstrecken und dabei einfach nach dem einen oder anderen Fisch schnappen! Dafür war er geboren!

Was ihn davon abhielt, von seiner Birke herunter zu kommen, war schlicht und einfach die Angst! Denn der Baum bot ihm Schutz, der Mülleimer ernährte ihn, und dann gab es ja noch die Eingeweihten, die wussten, dass es landauf landab Birkenbären gab. Nicht viele, natürlich, deshalb umso wertvoller.

In seiner Jugend hatte er die Eingeweihten zuerst kennengelernt. Sie standen vor seiner Birke und starrten unbeweglich ins Blattwerk. Sie übten sich im Verkehrtherumsehen, das heißt, sie konnten sich mit ihren Blicken und Gedanken in die Birke begeben und vom Birkenbären aus die Welt sehen und sich selbst so sehen, wie die anderen sie sahen. Die normalen Menschen aber konnten ihre Blickrichtung und ihren Standpunkt nie verlassen. Sie wussten nichts von den Birkenbären, denn sie wären nur ein öffentliches Ärgernis für sie. Sie würden fürchten, dass sie ihre Briefkästen, ihre Mülltonnen beschmutzten oder gar ihre Autos zerkratzten!

Das wusste unser Birkenbär, denn er selbst hatte keine Mühe sich in die Köpfe der normalen Menschen zu denken. Er sah dann ihre Bilder von Bären im Zoo, hinter Gittern, Tanzbären im Zirkus, mit Ringen durch die Nase, ohne Zähne und Krallen, von Kragenbären in Käfigen in China, ihre Galle angezapft und so dem Tode geweiht. Er sah auch Hunde, die in Kellerräume eingesperrt waren und nie das Tageslicht sahen und andere, die an Ketten gelegt waren und sich die Seele aus dem Leib bellten. Er wusste nicht, wie er je von seinem Baum kommen konnte, ohne sein Leben zu gefährden! Wie schafften das nur andere Birkenbären?

So tröstete er sich jahrelang mit den liebevollen Bemerkungen der Eingeweihten. Sie gingen unter seiner Birke vorbei, und wenn niemand in ihrer Nähe war, flüsterten sie freundliche Worte zu ihm hoch: "Träum schön von den Erdbeeren!" und "Heute habe ich die Fische im See springen sehen!" und manchmal schoben sie ihm auch einen richtigen Fisch nach oben in die Astgabel oder auch eine handvoll Erdbeeren.

Als der Birkenbär sich entschloss, doch vom Baum herunterzusteigen, war es wieder die Briefträgerin, die den ersten Kontakt mit ihm hatte. Sein Bein hing herunter, warm und weich, die Krallen aber ausgestreckt, Halt suchend. Die streiften die Briefträgerin, die sie für trockene Zweige hielt und von sich weg schob. Das beendete seinen Abstieg für diesen Tag.

Er sah, wie die Menschen sich plagten, es war alles zu viel für sie! Ihre Arbeit war ihnen zu viel, die Pflanzen im Garten empfanden sie als unverschämt, weil sie gewässert, beschnitten und gedüngt werden wollten, und wenn sie sich tatsächlich diese Arbeit machten und eine Pflanze trotzdem einging, weil sie vielleicht den falschen Standort hatte, dann waren sie empört: "Dieses undankbare Grünzeug! Was soll ich denn noch alles tun?!" Und sie warfen die verstorbene Pflanze in die Mülltonne und kauften eine neue. So dachte er sich, er könne sich vielleicht nützlich machen, ihnen helfen und gleichzeitig seine Birke in besseres Licht rücken. Und wenn sie dann erfuhren, dass er all die geplanten guten Taten begangen hatte, würden sie ihn nicht unweigerlich lieben? Und ihm nichts tun?

Am nächsten Morgen rutschte er wieder wagemutig den Stamm runter, bis auf die Erde. Seine Beine waren etwas schwach, und er musste sich am Baum festhalten. Just in diesem Moment kam ein Mensch mit einem vollen Mülleimer! Der Birkenbär stand hinter der Birke, hielt sie umschlungen, und nur seine langen Krallen waren von vorne zu sehen. Als der Mensch nach dem Mülleimerdeckel griff, um ihn hochzuheben, hatte der Birkenbär diese Arbeit schon übernommen und von hinten angehoben. Der Mensch war verblüfft, schaute hinter den Deckel, sah aber keine Erklärung und freute sich, dass das Anheben so leicht gegangen war. Der Bär aber kicherte lautlos in sich hinein.

Das Wässern der Birke war bei den Menschen auch unbeliebt und bot ihm wieder Gelegenheit, sich nützlich zu machen. Wenn der Mensch mit dem Schlauch anrückte, sah er zu seiner Verwunderung, dass unter der Birke schon satt gewässert worden war. Dann begann er den Briefkasten zu putzen. Er machte sein weiches Fell nass und rieb sich am Kasten, bis dieser blitzblank war. Der Mensch war sprachlos, aber auch fest entschlossen nichts zu hinterfragen. Im Laufe der Zeit übernahm der Birkenbär das Wässern des gesamten Gartens und auch das Harken der Wege. Für letzteres benutze er seine langen Krallen. Nacht für Nacht ackerte er gebückt auf den Wegen rum, wässerte und putzte den Briefkasten, den Zaun, das Garagentor. Tagsüber war er unendlich müde und schlief einen unruhigen Schlaf in seiner Astgabel. Gestört von Lärm und Getöse und dummem Geschwätz: "Bei uns sind die Heinzelmännchen zugange! Ich brauche im Garten nicht mehr zu wässern und mein Mülleimerdeckel geht automatisch auf!"

Als die Eingeweihten mitbekamen, was hier los war, missbilligten sie den Einsatz des Birkenbärens sehr! "Wo er doch so etwas besonderes ist sollte er sich nicht an die Normalmenschen ranschmeißen! " flüsterten sie im Vorübergehen. Er sollte eben nur von ihnen als mentales Vexierbild betrachtet werden. Wenn alle ihn sähen, wäre das Schöne und Wahre im Leben zu Allge-meingut verkommen!

Das hatte er nun davon! Viel Arbeit, wenig Schlaf und den Verlust der Achtung seiner einzigen Verbündeten. Die nächtliche Mühe hatte ihn noch nicht einmal in den Genuss der Erdbeeren gebracht. Zwar gab es ein Beet im Garten, vom Birkenbären liebevoll gewässert, die roten Früchte auf Stroh gebettet, aber er hatte es nicht ein einziges Mal gewagt zu naschen. So schaute er weiter sehnsüchtig nach den Erdbeeren und musste erkennen, dass all die Plackerei zum Wohle der Menschen ihm den ersehnten Weg in die Freiheit nicht gebracht hatte. Er saß weiterhin auf seiner Birke und träumte davon, am hellerlichten Tag herabzusteigen, sich zu zeigen, ohne dass ihm der Zoo, der Zirkus oder die Kragenbärenfarm drohte. Und er träumte davon, dass die Menschen sich über ihn freuen würden. Stattdessen hatte er die Nacht zum Tag gemacht und den Menschen Wohltaten erwiesen, ohne dass sie von seiner Existenz überhaupt wussten. Nur seine Muskeln waren kräftiger geworden, seine Krallen stärker und auch sein Mut hatte zugenommen. Das war vielleicht ein Anfang.

Eines Tages erschien ein pelziger Vierbeiner auf seiner Birke. Er war viel kleiner als er selbst, höchstens so groß wie zwei seiner Pranken. Er sprang elegant und leichtfüßig von Ast zu Ast und setzte sich dann manierlich zu ihm in die Astgabel, den Schwanz sorgfältig um seine Vorderpfoten gewickelt. "Guten Tag, ich bin Mio Mio, die neue Katze. Und wer bist du?" fragte sie neugierig. "Ich bin der Birkenbär und einen Namen habe ich nicht" erwiderte er.
"Ach?!" meinte Mio Mio etwas spitzmäulig und leckte sich einmal kurz über ihren Latz. "Kann man ohne Namen leben und wer ist man, wenn man keinen Namen hat?"

Darauf wusste er keine Antwort, und so wurde dies ein sehr kurzes Gespräch. Die Philosophie des Birkenbären bestand in seiner Vexierbildexistenz, sie war rein körperlich. Ein Gespräch über Philosophie war ihm unmöglich. Von da an sah der Birkenbär Mio Mio öfter unter seiner Birke. So saß sie auf der Terrasse des Hauses ganz in der Nähe, und er sah, wie die Menschen sie bedienten. Sie stellten ihr Teller mit Häppchen vor die Nase, gossen frisches Wasser in ihren Wassernapf und boten ihr weiche Kissen im Schatten der Markise.

Wenn der Birkenbär an den äußersten Rand seiner Birke kletterte konnte er sogar in das Schlafzimmer der Menschen schauen, und er traute seinen Augen nicht! Die Katze lag mitten im Federbett und schlief! Da kam ein Mensch zur Tür herein. "Mio Mio!" schrie der Birkenbär, "Schnell, rette dich!" Die Katze im Federbett hörte ihn wohl, aber machte nicht einmal Anstalten den Kopf zum Fenster zu drehen. Der Mensch stand vor dem Bett und versuchte nun, sich selber unter das Federbett zu schieben. Da hob Mio Mio die Pfote und fauchte leicht. Und der Mensch verzog sich respektvoll und überließ der Katze das Bett. Der Birkenbär war erschüttert!

In dieser Nacht stellte er seine Gartenarbeit ein und wälzte sich schlaflos auf seinem Baum hin und her. Ging man so mit den normalen Menschen um? Würden sie ihn auch lieben, wenn er die Pfote hob? Und warum hatte er keinen Namen? Mio Mio hatte ihm "Rupert" vorgeschlagen, das würde seiner großen Statur Gewicht verleihen. Er übte und flüsterte leise „Ruupert“, um zu lauschen, wie es sich anhörte und war damit zufrieden.

Als der Morgen kam hatte er sich auf Hochglanz gebürstet und gestriegelt. Er stand kerzengerade am Mülleimer als der erste Mensch erschien. Galant hob er den Mülleimerdeckel mit einer Kralle hoch und sagte mit klarer Stimme "Ich bin Rupert, der Birkenbär und werde nun zum See aufbrechen, um zu baden und Fische zu fangen. Dann komme ich wieder und möchte frische Erdbeeren essen. Und wenn ich danach schlafen gehe, darf ich nicht gestört werden!"
Der Mensch erschrak als er den zwei Meter großen Bären sah und hörte. Ein Schlag mit seiner Tatze würde ihn auslöschen! Und er eilte in seine Küche, um für die Rückkehr des Birkenbären Erdbeeren bereit zu stellen. Welche Ehre es war, so einem großen und schönen Tier zu Diensten sein zu können!
Rupert aber schritt erhobenen Hauptes von dannen, in eine selbstbestimmte Bärenzukunft. Es musste noch mehr im Leben erkundet werden, als nur Vexierbilder, Erdbeeren und frische Fische! Er war bereit für weitere Freuden.

5 Kommentare:

  1. Herzlichen Glückwunsch von Clemensweltweit an den Birkenbär. Alles Gute für den Start. Ich glaube an Dich.

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  2. Liebe Birkenbär,
    selten hat mich ein Text so berührt, und so beschäftigt wie dieser.
    Alles was ich von Hesse, Dostojewski, Satre und all den anderen, ach so bedeutenden Schriftstellern gelesen habe, ist hier -für mich- in einer kurzen Geschichte vereint.
    Ich möchte meinen Hut ziehen, und mich ganz tief verneigen.
    Und ich möchte dir danken. Dafür das du den Mut hast, deine in Bilder gefassten Gefühle, der Öffentlichkeit preis zu geben, und mit Menschen wie mir zu teilen.

    Ich freue mich sehr darauf, weiter zu lesen, aber zunächst, muss ich mich mit meinem eigenen, inneren Birkenbären auseinander setzen...

    Ich bin * von Herzen *, tief beeindruckt, und glücklich, daß ich so etwas gutes lesen darf.

    Liebe Grüße

    Nettie

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  3. Lieber Clemens,

    hab Dank für deinen Zuspruch! LG, Birkenbär

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  4. Liebe Nettie,

    ich danke dir sehr für diesen wunderbaren Kommentar! Das macht mir Mut, weiterzumachen. LG, Birkenbär

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  5. Heute habe ich eine Mail von einer Freundin bekommen, die mir gestattet hat, den Text hier einzusetzen:


    Liebe Eva,
    seitdem ich den Birkenbär gelesen habe, bleibt mein Blick an jeder Birke hängen. Ich suche eine, die dick genug ist für einen Bären. Die schönste Birke, die ich kenne steht in Bochum Langendreer vor einer Kirche bei meiner Freundin um die Ecke. Es gibt ein Bühnenbild für ein Ballett von Pina Bausch da stehen Birke an Birke und der Boden ist mit Schnee (Steropurkügelchen) bedeckt, ein Traum.
    Du merkst schon, mit Birken hast Du mich getroffen.

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