Samstag, 28. August 2010

Letzte Dinge

„Auf meinem Grabstein soll der Mädchenname meiner Mutter stehen, ich hab mir das überlegt. Kümmerst du dich darum?“

Mutter sitzt mir gegenüber im Bett, die Ärmel der rosa Häkeljacke tief über ihre mageren Finger gezogen, zwei große Kissen im Rücken. Ich liege erschöpft im Sessel ihr gegenüber, lang hingestreckt. Sie wird nur noch wenige Wochen leben, und ich versorge sie seit neun Monaten zu Hause. Die Beerdigung ist eines unserer Themen.
„Was, Anny Füllgraf?“
„Unsinn – Anny Iffland, geb. Füllgraf natürlich. Ich will den Namen meiner Adoptiveltern nicht auf meinem Grabstein haben, sie sollen endlich aufhören eine Bedeutung für mich zu haben.“
„Ja, gut. Papas Name und der deiner Mutter. Das mach’ ich doch gerne.“
Mutter seufzt zufrieden und schließt die Augen, sinkt in einen kleinen Schlaf.

Ihre vielen Namen haben mich in meiner Kindheit sehr beschäftigt. Ihr Mädchenname, der Name ihrer Adoptiveltern, der ihres Mannes und nun der Mädchenname ihrer Mutter. Durch meine Scheidung habe ich auch schon drei Namen angehäuft. Was soll einmal auf meinem Grabstein stehen? An welchen Namen sollen sich die Menschen nach meinem Tod erinnern? Meinen Mädchennamen, den meines ersten Mannes, den meines zweiten Mannes?

Mutter wird wach. Sie hat Durst und greift nach ihrer Lieblingstasse mit dem nun schon kalten Kräutertee, trinkt gierig und hebt dann die Tasse hoch: „Was machst du damit? Bringst du das zu einer Versteigerung? Ist noch vollständig, das Service.“

Villeroy und Boch, Wildrose. Ja, eine gute Idee. Ob ich es haben will? Na, lieber nicht. Nimmst du mir nicht übel? Das ist gut, ich hab ja auch so schon genug Geschirr.
Ich schaue in ihr kleines Schmuckkästchen, wenn wir schon mal dabei sind. „Wo ist denn der Krönchenring, Mama?“
Schweigen. Ich schaue zu ihr, sie guckt weg, ihre Hände zupfen an der Bettdecke. „Da muss ich was beichten. Ich hab ihn deiner Schwägerin geschenkt. Die haben’s doch immer so nötig.“

Ich setze mich und kann sie minutenlang nicht anschauen. Der Krönchenring hatte meiner Schwiegermutter gehört, es war ihr teuerstes Stück gewesen, über und über mit Brillanten bestückt. Nach ihrem Tod hatte ich meinen Mann gefragt, ob ich ihn meiner Mutter leihen könne, damit sie nicht immer nur Modeschmuck beim Tanztee tragen müsste.
„Er war eigentlich nur eine Leihgabe, Mama.“
„Dein Bruder hat gesagt, er sei nichts wert gewesen. Sie haben ihn auf dem Trödelmarkt gegen ein Paperweight eingetauscht.“

Stille und Schweigen. Mein Bruder sammelt Paperweights, sie stehen rund und bunt in einer Glasvitrine, mal Tchiboplunder, mal teure schottische Glasbläserarbeit. Auch erinnere ich mich an die Strickjacke, die ich Mutter vor einigen Jahren zu Weihnachten gestrickt hatte und die sie im Jahr darauf ebenfalls meiner Schwägerin geschenkt hatte. Es sei ihr so kalt gewesen, und sie haben’s doch immer so nötig.

Ich gehe neuen Tee in der Küche kochen, greife ziemlich heftig und laut nach dem Wasserkocher und den Tassen. Ach, Mama. Mit den dampfenden Tassen greifen wir den Beerdigungsfaden wieder auf – der Krönchenring ist erledigt.

Musik? „Ja, gerne. Woran hast du gedacht?“
„Wie wär’s mit der Brieselang-Musik? Hast du schon rausgekriegt, von wem sie eigentlich ist?“
Hab ich, ja, ist Dvoraks „Humoreske“. Wir könnten einen Recorder in der Kirche aufstellen, da wird es aber Tränen geben. Wir wissen beide, warum: Es war Ende des Krieges, im Volksempfänger wurde die „Humoreske“ gespielt, als die russischen Soldaten auf unseren Hof in Brieselang kamen und uns an die Wand stellen wollten. Von da an sprachen wir immer über die Brieselang-Musik.
Es wird Zeit, mich für heute zu verabschieden.
Morgen planen wir weiter. Ich komme nach der Arbeit wieder vorbei und bringe etwas zu essen mit.
„Vergiss nicht, dass ich kein Salz mehr vertrage, davon wird mir übel.“
„Aber ja doch!“

Ich ziehe die Tür hinter mir ins Schloss. Nein, ich will nicht darüber nachdenken, welcher Name auf meinem Grabstein stehen soll. Ich will mir vorstellen, dass mein vollständiger Name noch lange an unserer Haustür steht, dass er auf einem Buch steht, das ich schreiben werde, auf einer Geburtsanzeige, wenn meine Enkelkinder geboren werden. Mein Weg ist noch nicht zu Ende.

Es ist Frühjahr geworden und Mutter hat den Winter überlebt. Zu Weihnachten hatte ich ihr eine Tulpenzwiebel in einem kleinen Blumentopf geschenkt, die Knospe war noch nicht voll ausgetrieben. „Ich verstehe, weshalb du mir das gibst,“ hatte sie gesagt. Aber nun kann sie den Frühling doch noch erleben, wenn auch nur vom Bett aus. Ein Pflegedienst kommt zweimal am Tag und ich einmal. Auch meine Schwägerin war aus München angereist und hatte sie eine Woche lang gepflegt.

Heute ist mein Geburtstag, und ich gehe schon früh zu ihr, noch vor dem Büro.

Als ich die Schlafzimmertür leise aufdrücke, sehe ich sie aufrecht im Bett sitzen, die Beine über der Bettkante, den Rücken zu mir. Sie ist sehr mager und klein geworden, ich kann ihr Rückgrat durch das Nachthemd sehen. Sie macht eine halbe Drehung zu mir und ich sehe, dass sie weint.
„Ach, Rieke, du bist schon da,“ seufzt sie und schaut mich an.
„Mama, was ist denn?“ Ich nehme sie in die Arme.
„Ich habe nichts für dich, es ist doch dein Geburtstag.“
Ich drücke sie: „Aber du hast mir doch mein Leben gegeben, Mama. Heute ist ja auch dein Tag.“

Dann gehe ich in die Küche und hole den Blumenstrauß, den ich dort abgestellt hatte, als ich in die Wohnung gekommen war. Mutter weint immer noch, ihr Gesicht ist dabei bewegungslos und sie schluchzt nicht mehr. Wirft keinen Blick auf die Blumen, auch nicht auf mich, ist nur still bei sich. Nach langen Minuten sagt sie: „Ich schäme mich so. Ich...ich... hab deinen Bruder dir immer vorgezogen. Und jetzt, am Ende, bist du da. Was soll ich bloß tun?“

Ich wiege sie in meinen Armen und streichele ihre Schultern. „Ich hätte keine andere Mutter haben wollen. Du warst meine große Liebe. Es ist alles gut!“ Die bitteren Erinnerungen an ihre Härte, ihre Abweisungen, ihre Bestrafungen sind schon seit einigen Jahren verblasst, und ich muss nun nicht mehr weinen. Ich kann sie still im Arm halten und trösten. Es gibt nur sie und mich in diesen Minuten.
Dann mache ich ihr Bett, während sie sich mühsam in ihrem Ohrensessel in eine Decke kuschelt. Noch kann sie ein paar Schritte gehen, aber bald wird auch das nicht mehr möglich sein. Ich zünde eine Kerze an und bringe einen Teller mit Kranzkuchen und auch eine Tasse frischen Kaffee. Zwei Happen und zwei Schluck, und es ist ihr übel. Dann doch lieber Kartoffelpüree ohne Salz.

Am Abend werde ich noch einmal wiederkommen und die Kinder mitbringen. „Ist dir das recht?“
„Aber ja doch, ich freue mich darauf.“ Sie muss jetzt wieder schlafen. So sammelt sie ihre Kräfte für die baldige Reise. Ich schließe sacht die Tür zu.

Im Treppenhaus treffe ich Christiane, die junge Frau vom Pflegedienst. Sie ist eine ausgebildete Krankenschwester und meiner Mutter sehr zugetan. Ich kann innerlich loslassen und fahre beruhigt in das Büro.

Ein Freitagabend im Juni

Beim Betreten der Wohnung treffe ich Mutters Hausärztin, die auch einen Wohnungsschlüssel hat. Sie erklärt mir, dass meine Mutter im ganzen Körper Wasser hat und sie ihr deshalb keine Spritzen mehr geben kann, weil sie nichts nützten.
„Aber die Tabletten kann sie auch nicht mehr schlucken, sie wird unendliche Schmerzen haben!“ begehre ich auf.

„Ich kann für ihre Mutter nichts mehr tun, es tut mir leid.“

Wir stehen in der Küche, damit Mutter nicht hört, wie wir aneinander geraten. „Was soll das heißen? Gibt’s denn keine Hilfe für einen Patienten, wenn er stirbt!?“

„Was Sie von mir verlangen, ist verboten, ich leiste keine Sterbehilfe!“ Sie packt ihre Tasche und geht, lässt mich stehen, gibt keinen Rat. Mir werden die Knie weich und mein Magen rebelliert. Dann gehe ich in Mutters Schlafzimmer.

Sie liegt still da, und ich beuge mich zu ihr runter, um sie zu küssen und zu verstehen, was sie sagt. Sie muss auf die Toilette und sie hat Hunger.

Ich hebe sie mit aller Kraft auf den Toilettenstuhl neben ihrem Bett. Das Wasser hat sie sehr schwer gemacht, aber ihre Arme sind spindeldürr, ich umfasse mit einer Hand ihr ganzes Handgelenk. Schiebe sie danach in ihr Bett. Nun muss ich sie abputzen. Starre auf den entblößten Unterleib meiner Mutter. Zögere. Sie hat mich damals als Kind gepflegt und gereinigt. Aber sie hat mir auch eine tiefe Scham gegenüber meinem Intimbereich eingeprägt. Und nun starre ich auf den meiner eigenen Mutter. Die Schamhaare sind immer noch dunkel, wie kann das sein, ihr Haupthaar ist doch weiß. Dann tupfe ich sie vorsichtig mit etwas Papier ab. Hier war das Tor in mein Leben, hier betrat ich die Welt. Ich sehe es nun wieder - nach fünfzig Jahren.

Auf den Toilettenstuhl werden wir es nicht noch einmal schaffen, und so lege ich ihr eine dicke Vorlage zwischen die Beine.

Dann gibt es etwas zu essen. Die Gemüsebrühe trinkt sie in kleinen Schlückchen aus der Schnabeltasse. Ich halte sie dabei in einer Sitzposition, weil ihr Bett nicht verstellbar ist. Als sie fertig ist, lehnt sie sich gegen mich und flüstert „Das war gut - noch einmal satt essen.“ Ich verstehe, was sie damit meint und auch, dass sie versteht, dass sie im Sterben liegt. Nicht so, wie in den letzten Monaten, sondern jetzt, heute oder morgen. Da weiß ich, dass nun die Zeit gekommen ist, dass ich zu ihr in die Wohnung ziehen muss, dass der Pflegedienst und meine Besuche nicht mehr ausreichen.

Ich fahre noch einmal nach Hause und packe einen Koffer, regele meine Arbeit und meine Familie und ziehe in Mutters Gästezimmer.

Sonntag

Mein Mann und meine Kinder kommen, und ich kann mich endlich für ein paar Stunden schlafen legen. Mutter hat seit Freitag nichts mehr gesagt, nur ihre Blicke folgen uns, wenn wir uns um sie kümmern. Sie will nicht mehr berührt werden, schiebt meine Hand weg, wenn ich sie streichele.

Gegen Abend sinkt sie in einen komaähnlichen Zustand, die Augen geschlossen, den Mund leicht geöffnet, und sie stöhnt aus tiefster Seele.

Montag

Was soll ich tun? Ich laufe auf und ab, ich suche nach der nie benutzten Bibel, suche meinen eigenen Einsegnungsspruch, den Psalm 23, nur weil ich weiter nichts kenne: „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln“, lese ihn immer wieder für mich und für Mutter. Christiane, die Krankenschwester, wäscht ihr Gesicht und massiert vorsichtig ihre Füße, wechselt ihre Windeln.

Aus Mutters Stöhnen formt sich nun ein Ruf: sie ruft nach ihrem Sohn „Hans-Peter“! Tief und rasselnd einatmen und mit dem austretenden Atem stößt sie „Hans-Peter“ aus, für „Peter“ muss sie noch einmal Luft schöpfen. Stundenlang, mit jedem Atemzug. Es gibt kein Entkommen in der Wohnung, das Rufen ist überall zu hören. Ich rufe meine Schwägerin in München an, sage ihr, dass mein Bruder zu seiner sterbenden Mutter kommen muss. Sie sieht das auch so, doch er will nicht. Aber er muss, und endlich kommt der Anruf mit den Flugdaten. Nun warten wir.

Mein Mann kommt und löst mich ab. Christiane und ich setzen uns in der Küche an den Tisch und spielen Karten, vom Schlafzimmer her tief und rasselnd „Hans-Peter“. Ich denke ‚So ist das, wenn man sich abschotten möchte, weil das Leid nicht mehr zu ertragen ist.’ Aber meine Schilddrüse schmerzt und meine Hände zittern, es ist wohl nicht so weit her mit dem Abschotten.


Dienstag

Es klingelt, Hans-Peter steht vor der Tür. Ich fliege ihm um den Hals, endlich ist er da, mein großer Bruder! Habe ich nicht mein ganzes Leben lang auf ihn gewartet? Mutters Ruf ist leiser geworden, ihr Sohn setzt sich neben sie, hält ihre Hand. Erkennt sie ihn? Ich bin mir sicher, dass sie weiß, dass er bei ihr ist. Ihr heiß geliebter Sohn und sie, meine heiß geliebte Mutter. Ich schlafe auf dem Sessel neben Mutters Bett ein.

„Wie kannst du neben deiner sterbenden Mutter schlafen?“ will Hans-Peter wissen.

„Nach zwei Nächten ohne Schlaf, kann man das.“


Mittwoch


Wir warten darauf, dass Mutter ruhiger wird, dass sie loslassen kann, vom Leben in den Tod hinüber gleitet. Aber ihr Gesicht ist schmerzverzerrt, sie stöhnt immer noch. Die Hilflosigkeit schwappt wie eine Welle über mir zusammen. Ich brauche Hilfe, Mutter braucht Hilfe! Aus meiner Hilflosigkeit erwachsen Wut und Kraft, sie steigen heiß in mir auf. Ich beginne zu schreien und Christiane und Hans-Peter schauen mich stumm an. Dann endlich fällt mir eine Ärztin ein, die ich vor einem Jahr mit meiner Mutter aufgesucht hatte und die damals bei mir den Eindruck erweckt hatte, sie würde helfen können, wenn es „soweit ist“. Es ist schon seit Tagen so weit.

Ich schreie in das Telefon: „Meine Mutter kann nicht sterben, sie quält sich! Und ich kann nicht mehr, ich bin am Ende. Bitte kommen Sie!“ Die Ärztin sagt nur zwei Worte: „Ich komme.“ Ich werde etwas ruhiger und stecke den Zettel mit dem Namen und der Telefonnummer sorgsam in mein Portemonnaie.

Dann stehe ich auf dem Balkon, schaue auf die Strasse und warte auf die Ärztin, rauche eine Zigarette. Die Sonne scheint, draußen fährt die S-Bahn rumpelnd vorbei, es spielen Kinder vor der Haustür. Und endlich sehe ich sie auf das Haus zukommen. Sie trägt einen weiten Rock, der beim Gehen schwingt, am Arm ein Bastkörbchen, darin liegt etwas, das mit einem Küchenhandtuch abgedeckt ist.

Als sie in das Schlafzimmer kommt, sagt sie „Ach, Sie haben es schön gemacht, mit der Kerze am Bett.“ Sie hat eine fränkische Aussprache, die mir gut tut, warum, weiß ich nicht. Sie zieht eine Spritze mit Morphium auf und setzt sie an, an welchem Körperteil kann ich nicht sehen. Innerhalb einer viertel Stunde wird Mutters Stöhnen leiser, entspannen sich ihre Gesichtszüge. Die Ärztin wartet mit uns und hört dann ihre Herztöne ab, fühlt den Puls und sagt uns, dass Mutter uns nun verlassen hat.

Ich breche weinend an ihrem Bett zusammen, Christiane bringt mir meine Schilddrüsentropfen. Jetzt muss ich den Weg wieder in mein Leben zurück finden. Ohne meine Mutter, deren Stimme ich nur noch in mir drinnen hören werde. Ein langer Abschiedsschmerz liegt vor mir, aber er ist ohne Bitterkeit, ohne Vorwürfe über verpasste Chancen. Übrig bleibt das Unfassbare, dass Menschen, die wir lieben, unwiderruflich uns verlassen und die Erkenntnis, dass ich das nie wirklich verstehen werde.

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