Samstag, 28. August 2010

Frau W.

"Probieren Sie ruhig ein Löffelchen vom Kaviar", sagte Frau W. und reichte Marie-Luise die dunkle, kleine Dose mit Löffel und Unterteller. "Sie sehen so aus als könnten Sie das jetzt brauchen."



Marie-Luise saß erschöpft in ihrem Trainingsanzug auf der Bettkante, eine schlanke Zwanzigjährige mit rot-braunen Haaren. Nach der morgendlichen Gymnastik war sie gleich zu ihrer Therapiestunde nach oben gegangen, und ihr Frühstück stand noch unberührt auf dem Tisch am Fenster. "Mir steht alles vor dem Magen, es ist lieb von Ihnen, ich weiß nicht, Kaviar... vielleicht lieber Kaffee. Kaviar hab ich noch nie probiert."



"Mein Mann kann uns wieder neuen mitbringen, nehmen Sie ruhig." ermunterte Frau W. sie wieder. 

Sie war um die Fünfzig, und der Kaviarbringer war ihr zweiter Ehemann, das wusste Marie-Luise schon. Auch von ihrer Platzangst hatte sie ihr erzählt. "Agoraphobie nennt man das", hatte sie erklärt. "Ich kann das Haus nicht verlassen. Wenn ich rausgehe, dann kommt mir das Pflaster in Wellen entgegen. Ich übe und übe, ziehe mich am Zaun entlang, um vorwärts zu kommen."



Wie in einem Alptraum hatte Marie-Luise gedacht und sich fürsorglich um sie gekümmert. Sie hätte ihre Mutter sein können.

Beide waren in der zweiten Klasse in dieser Klinik für psychosomatische Störungen untergebracht. Während in der dritten Klasse fünf bis sechs Betten in einem Raum waren, teilten sie sich zu zweit ein Zimmer. Außer ihren Betten gab es nur noch zwei schmale Schränke und eine Sitzecke mit Tisch am Fenster. Über Frau W.’s Bett hing ein Bild, auf dem ein einsamer Ruderer auf einem See in den Sonnenuntergang ruderte. Am ersten Abend ihrer Bekanntschaft hatte Frau W. auf die Ärztin gewartet und wollte deshalb nicht das Zimmer verlassen, um sie nicht zu verpassen. Marie-Luise hatte gesagt: "Wieso, wenn jemand nach ihnen fragt, dann sag ich einfach: Na da ist sie doch, sehen Sie nicht, wie sie da fort rudert?" Als ihnen das Mittagessen nicht schmeckte sagte Frau W.: „Kippen wir’s einfach in den See!" Oder Marie-Luise sagte: "Ich dreh jetzt mal kurz eine Runde im Boot" wenn sie die Nase voll hatte vom Klinikbetrieb.

Marie-Luise hatte ihre Ängste und Alpträume in die Therapiestunde getragen und Frau W. nur von ihrem Selbstmordversuch erzählt. Es fiel ihr schwer, sich anderen Menschen anzuvertrauen. Die meisten Menschen hielten sie für viel zu erdgebunden und optimistisch, um überhaupt Probleme zu haben.

 Wie sollte sie ihr davon erzählen können, dass sie jahrelang über KZs Alpträume gehabt hatte? Dass sie ihren "Fiebertraum" bekam, wenn sie von den Gräueltaten der Nazis hörte? Und dann die Geschichte von Onkel Hans, Mutters Bruder, der von der Gestapo verhaftet wurde, weil er den Zeugen Jehovas angehörte. 

All die grässlichen Bilder in ihrem Kopf. Und das Geräusch von dem Aufschlagen seines Kopfes! Onkel Hans, von der Gestapo an den Füßen die Treppe runtergezogen, der Kopf schlug bei jeder Stufe auf. Seine Ehefrau soll dies lustig gefunden haben, als sie davon hörte. 
Und ihre eigenen Assoziationen, wenn sie schaukelnde, quietschende Hoflaternen sah in Fabrikhöfen, an einsamen Grenzübergängen, die durch Gelesenes, Gehörtes und nie Verarbeitetes sich in endlose, freie Appellhöfe verwandelten. Lautsprecheransagen, die über den Platz hallen. "NN" braucht noch Menschen für den nächsten Transport. Sie laufen zusammen, frierend und zitternd. In dünnen, gestreiften Anzügen, darunter Zeitungspapier gegen die Kälte. "Nacht & Nebel" sammelt sie für den Transport nach Auschwitz ein. Sie suchen in den Baracken, im Hospital, im kleinen und im großen Lager. 

Aber hier in Berlin- Grunewald, in ihrem warmen Zimmer ist Frau W. da, die Marie-Luise aus ihrem Leben erzählt, einem guten Leben, wie sie sagt: "Wissen Sie, ich kann nicht klagen. Ich hatte fünfundzwanzig gute Jahre. Ich habe damals, 1945, eine Hypnosetherapie machen lassen. So konnte ich alles vergessen. Aber seit einigen Jahren ist alles wieder da, und ich habe diese Platzangst."


"1945?" fragt Marie-Luise. "Was passierte denn damals, oder fällt es Ihnen schwer, darüber zu reden?"


"Ich habe es nicht ertragen, als ich meinen ersten Mann in flagranti erwischte. Er war meine große Liebe. Ich kam dazu, wie er seine Assistentin küsste. Und dabei waren wir so glücklich damals. Er war Arzt und hatte die Chance seines Lebens in der Forschung zu arbeiten.

Man hatte damals alle Ärzte angeschrieben und ihnen gut bezahlte Posten in den Lagern geboten. Na, Sie wissen ja vielleicht was ich meine. Wir waren so jung. Aber ich habe es einfach nicht ertragen, dass er mit einer anderen Frau....ich war schon immer sehr eifersüchtig, er sah so gut aus in seinem weißen Kittel. Und heute nun ist alles wieder da - diese andere Frau und die Erinnerung an ihn."


"Er war Arzt in einem Lager?" 
Marie-Luise hatte einen Kloß im Hals.

"Ja, nun regen Sie sich nicht auf! Nach 45 haben uns die Amerikaner gezwungen diesen Film anzugucken. Wir waren in Heidelberg und alle mussten ihn sich ansehen. Stellen Sie sich das vor! Wie hieß er noch?"


"Die Tretmühlen des Todes?"


"Ja, so ähnlich hieß er."

Durch die Beobachtungsbullaugen in den Gaskammern aufgenommen. Schaufelbagger, die Ordnung schaffen. 

Die beiden Frauen starren sich an. Frau W. greift nach der Zeitschrift auf Marie-Louises Nachttisch: "Glauben Sie, dass mir das hier gefällt?" 

Es ist die Konkret.
"Lauter linke Parolen! Wollen Sie unsere deutschen Werte in den Schmutz ziehen?!"

Marie-Luise stürzte sich auf Frau W. und schlug in wilder Verzweiflung auf sie ein.

 Das Schreien der beiden Frauen ließ die Schwestern hereinstürzen. Sie wurden getrennt, Frau W. in einem anderen Zimmer einquartiert, der Kaviar hinterher getragen. Marie-Luise war allein und bekam eine Tablette.



Vor dem Klinikfenster fiel nadelzart Schnee. Ein endlos weißes Feld in der Dunkelheit. Schwankende Hofbeleuchtung. Kleine, schwarze Punkte liefen zusammen. Sammelten sich für den Transport.

Dann tat die Valium 10 ihre Wirkung.

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