Donnerstag, 2. September 2010

Es war einmal ein Riese, der lebte in den warmen Monaten des Jahres mit drei Katzen in einem Haus. Es gab den Frühjahrskater, den Sommerkater und die Herbstkatze. Nur für den Winter hatte er niemanden. Und wenn im Herbst die Nebel fielen und er anfing mit der Katze zu hadern, weil er wusste, dass nach ihr nur noch der einsame Winter kam, hoffte er stets, dass doch noch ein Tier in seinem Garten erschien, das ihm anbot, den Winter mit ihm zu verbringen.
Aber Jahr für Jahr geschah nichts dergleichen. Seine vierbeinigen Pelzer verschwanden unwiderbringlich Ende November im Keller und tauchten erst Ende März, einer nach dem anderen, wieder auf.
Der Keller hatte unübersichtlich viele Kammern und Holzverschläge. Der Riese hatte schon vor Jahren vergessen, was dort alles gelagert war, und obwohl er sich stets vornahm den Keller aufzuräumen, gelang es ihm nie. So sah es um die Treppe herum noch recht manierlich aus, aber je weiter es in die Tiefe ging, umso dunkler, staubiger und vergessener wurde es. Hinzu kam, dass jedes Jahr immer neue Dinge in den Keller wanderten. Alte Möbel und Kisten und Kartons, seine Erinnerungen und seine langgehegten Wünsche und Träume, an die er nicht mehr denken wollte, weil es ihm eine Last war. Auch für den Schmerz gab es riesige Holzverschläge, ganz hinten, noch hinter dem Kohlenkeller, wo er sich die Hände würde schmutzig machen, wollte er dort aufräumen.
In diesen Keller verschwanden die Katzen für lange Monate. Und da er nie den Mut hatte, ihnen zu folgen, wusste er auch nicht, was sie dort taten. Schliefen sie? Eine Art Winterschlaf für Hauskatzen? Doch dann hörte er in den langen einsamen Winternächten ein fernes Rumpeln aus dem Keller und wusste, dass sie nicht schliefen. Da zog er sich furchtsam die Decke über den Kopf, denn er wollte nicht wissen, was da unten los war, denn er war zwar groß aber leider nicht mutig.
Draußen zog der Winter in seinen Garten, biss in die Zwiebelknollen der Tulpen, wenn der Riese vergessen hatte sie warm mit Tanne zuzudecken, legte sich mit glitzernder Schönheit auf die Bäume und hauchte Frostblumen an die kleinen Kastenfenster des Hauses. Wenn der Riese klug im Herbst Holz gesammelt hatte konnte er sich am Kaminfeuer wärmen und die Öfen befeuern.
Aber der Winter war nicht immer kalt, trocken und leuchtend weiß, sondern oft war er nur grau und feucht. Er drückte den Rauch in den Kamin und zog dem Riesen schmerzhaft in die Knie und die Schultern, so dass er sich nicht bewegen konnte. Und ließ ihn nachts nicht schlafen, wenn der kalte Wind ums Haus heulte und es im Keller leise rumorte.
Anfang März aber brachen die Krokusse durch die Erde, und die Wiese erstrahlte in blau und gelb. Und noch bevor die roten Tulpen folgten, stand Kater Jakob mitten im Schlafzimmer des Riesen, um ihn zu wecken! Mit leuchtend gelben Augen, glänzendem schwarzem Fell, dicht und puschelig, und um die strammen Hinterbeinchen mit samtenen Pluderhosen. So begann das Jahr mit Kater Jakob! Denn Dezember bis März war der Riese katzenlos gewesen und hatte nicht gelebt, nur gewartet.
Nun kam frische Luft in alle Räume - der Riese putzte die Fenster und war von früh bis spät glücklich und sehr beschäftigt.
Jakob eroberte das ganze Haus, schlief mal hier mal da, lag auf dem Rücken und hatte die kleine, rote Zunge beim Schnarchen raushängen, oder kuschelte sich in den großen Sessel im Arbeitszimmer des Riesen. Der kochte Seelachs mit Reis, warf ihm auch kleine Fleischbällchen zu, und es war eitel Freude und Fettlebe in ihrem Haus.
Anfang Mai zog der Sommer ins Land. Früh fiel das Licht durch die Jalousetten, brach sich bunt im geschliffenen Glas der Frisierkommode, und als der Riese sich die Augen rieb, stand Kater Merlin in aller Sommerpracht vor ihm! Sein Fell leuchtete orange-rot in der Sonne, über die Brust zog sich ein weiches, gelbes Flies und um den stolz erhobenen Schwanz waren rote Ringel. Merlins Augen waren bernsteinfarben und seine Schnauze und die Ballen an den Pfoten rosarot.
Er ging majestätisch auf den Riesen zu, stieg zu ihm ins Bett und ließ sich in dessen linker Armbeuge nieder. Das war sein angestammter Platz, wo er dem Herzklopfen des Riesen lauschen konnte. Und hier sprachen sie lange, leise miteinander und gestanden sich, wie einsam der Winter gewesen war. "Mein zimtfarbenes Plätzchen, du", "Mein Ingwerstäbchen", "Mein keltischer Prinz" überhäufte der Riese den großen Kater mit Liebkosungen, und Merlin hing an den Lippen seines geliebten Riesen.
Der Sommer war warm und hell. Über den Rasen tollten zwei Kater, der eine rot, der andere schwarz. Und da es nachts warm war und der Riese manchmal nicht schlafen wollte, legte er sich in das Gras in seinem Garten, ganz weit in der Ferne die Geräusche der Stadt, über sich die Kronen der alten Bäume.
Die Pflaumen wurden reif, und der Riese kochte Marmelade. Die Sonnenblumen wuchsen schier in den Himmel, und am Spalier und an der Hauswand wurden langsam die Weintrauben reif. Die Kater hatten ihre Lieblingsplätze gefunden, hoch auf dem Kleiderschrank und zusammengerollt auf dem Korbstuhl im Badezimmer.
Der Weg in den Keller war immer offen. Es gab kleine Schlupflöcher für die Pelzer in jeder Tür. Aber im Sommer zog es sie nie in die Tiefe des Kellers. Wohl aber kam noch ein Pelzer herauf: die Katze! Als letzte stieg sie die Treppe hoch und verlangte Aufnahme unter den Vierbeinern und bei dem Riesen. Sie war die Älteste, die Schönste und die Klügste! Dreifarbig - schwarz, weiß und rot, der dunkle Teil des Felles rauchgrau wie bei einer Karthäuserkatze. Ihre grünen Augen funkelten, und mit kehliger Stimme schrie sie: "Friederike ist da!" und alle kamen, um sie zu empfangen, sie als Dienstälteste zu hofieren, vor die vollen Futternäpfe zu führen, hinter den Ohren zu kitzeln und ein seidenes Kissen aufzuklopfen.
Friederike selbst hatte jedoch nur Augen für den Riesen - ihn liebte sie leidenschaftlich und besitzergreifend. Kater Jakob wurde giftig angefaucht und auch Merlin bekam gleich die Pfote zu spüren! Ihre preußische Natur ließ sie neben sich keinen anderen Pelzer dulden, und der Riese spürte das baldige Herannahen des Herbstes schon in seinen Knochen.
Vorläufig wurden aber erst einmal die Kastanien reif und knallten laut auf das Dach. Der Wein wurde geerntet und auf langen Schnüren auf dem Dachboden aufgehängt. Die Vögel plünderten in organisierten Beutezügen die restlichen Weintrauben am Haus und die Hagebutten im Vorgarten. Friederike saß dann mit gierigen Augen im Fenster, aber verließ trotzdem nie das Haus.
Sie war die Katze des Hauses, hockte auf dem Treppenabsatz vor dem Schlafzimmer und versuchte die Kater daran zu hindern, nach oben zu kommen. Mochten die doch da draußen, wo es windig und feucht war und andere unsagbare Vierbeiner sich herumtrieben, ihr Regime führen, hier im Hause war sie die Königin, wenn auch erst ab dem Monat Juni. Und der Riese kraulte ihr die weiße Brust und ließ sie an seinen Fingern zärtlich knabbern. Gegen Abend fanden sich die Kater ein und erkämpften sich ihre alten Plätze. So gab es Ruhe im Haus, wenn der Riese schlafen ging. Wie eine Herde lagen seine Lieblinge um ihn herum: wohliges Schnurren, glänzendes Fell, lang gestreckte Körper mit leicht angemästeten Bäuchen, eine wohlige Erinnerung an Leberhäppchen, Forellenfilets, Seelachs mit Reis und zarte, frische Mäuse.
Doch mit den ersten Schneeflocken, dem ersten Frost, brach diese Herde auf: zuerst Jakob, dann Merlin und zum Schluss Friederike. Hinab in den Keller, ins endlose, graue Vergessen. Würde der Riese nie erfahren, was sie dort trieben? War der Keller ein Gang in eine andere Welt, wo die Katzen schliefen und spielten? Gab es dort einen Winterriesen, der sie schon erwartete? Oder rollten sie sich in einer staubigen Ecke zusammen und verschliefen die kalte Jahreszeit?
Mit der Einsamkeit des beginnenden Winters ergab der Riese sich in sein Schicksal und schob täglich etwas Trauer und Sehnsucht die Kellertreppe hinunter.
So ging es viele Jahre. Die Katzen kamen und gingen und mit ihnen auch das Leben im Hause des Riesen.
Und eines Tages war es wieder so weit, dass der letzte Pelzer in den Keller verschwand. Diesmal sah der Riese Friedericke hinterher, als sie langsam die Kellertreppe hinunter stieg. Es tat ihm weh, sie gehen zu sehen, doch zum ersten Mal drehte er sich nicht weg. Im Dunkel des Kellers leuchteten ihre weißen Flanken auf. Der Riese spürte Sehnsucht nach ihrem weichen Fell, und die Katze hielt inne, drehte sich um und sah ihm tief in die Augen. Und ihm war, als wenn Zeit und Raum versanken; er sah nur das Leuchten ihrer Augen. Drei Farben, dachte er. Jakob ist schwarz, Merlin ist rot und Friedericke ist schwarz-weiß-rot. Das Weiß ihrer Flanken schien aus dem Dunkel des Kellers in sein Herz zu strahlen. Eine weiße Katze fehlte! Weiß, wie eine kleine, heiße Flamme, weiß wie der frische Schnee! Mit einem Schluchzen ließ er seine winterliche Einsamkeit heraus und bat die Katze: "Geh nicht, bleib bei mir, nur diesen einen Winter!" Da schien es ihm, als wenn Friedericke traurig wurde, aber sie schritt langsam weiter die Treppe hinunter. Der Riese folgte ihr Schritt für Schritt. Die Sehnsucht nach Friedericke führte ihn immer weiter ins Dunkel.
Bald stand er allein im Keller, stolperte über Kisten und Kasten, fiel in seine eigenen Erinnerungen und Wünsche. In jedem Korb, in jedem Koffer waren nicht nur alte Kleider und Geschirr, sondern auch seine Einsamkeit, seine Angst vor Nähe. Jeder Winter war mindestens eine Kiepe voller Trauer und Angst. Und als er unter Tränen alles beschaute und befühlte und sich schrecklich schmutzig machte, konnten auch all die verbuddelten Wünsche und Erinnerungen hervorgezogen werden.
Die Zeit verging, und der Riese kam einem ständigen Rumoren immer näher. Und dann sah er die Katzen: sie räumten und rückten, sortierten und entstaubten. Jakobs lackschwarzes Fell war voller Staub, Merlins roter Pelz voller Flecken, und Friedericke hatte abgebrochene Krallen vom vielen Arbeiten.
Die Pelzer räumten Jahr für Jahr den Keller auf! Sie führten kein herrliches zweites Leben mit einem Winterriesen, sie schliefen nicht rund um die Uhr, sondern arbeiteten für ihn, damit der Keller mit seinem Gerümpel nicht das Haus aus den Fugen geraten ließ.
Diesen Winter nun packte der Riese mit an. Es gab ein Riesengetöse, dicke Staubwolken, viel Niesen und so manch alte Kröte, die in den Ecken aufgescheucht und von den Katzen verjagt werden musste. Es dauerte Wochen, bis er sich wieder auf den Weg nach oben machte, dünn und ausgehungert! Als er nach oben kam und die Kellertür knarrend ins Schloss fiel umgab ihn eine weiße Stille, denn draußen hatte sich die Welt verändert.
Es lag zentimeterdick Schnee ums das Haus herum, auf allen Bäumen, Dächern und Fensterbrettern. Der Schnee erhellte auch innen das Haus. Mit klammen Fingern machte der Riese sich einen Tee und wärmte sein Gesicht an der Tasse. Er stand ganz still und lauschte. Um ihn war nichts als Stille und die Helligkeit des Schnees vom Garten. Und obwohl er ganz allein war fühlte er sich nicht einsam, nur müde und erschöpft nach all dem Lärm und Getöse im Keller. Und er spürte seine schmerzenden Knochen von der Arbeit, aber auch sein leichtes Herz.
Dieses Jahr nun war der Winter trocken und kalt, und weil der Riese nicht hatte heizen können, waren alle Fenster mit Eisblumen überzogen und an den Dachrinnen hingen Eiszapfen. Als er das Kaminfeuer in Gang setzte und sich im Sessel ausstreckte, taute ganz langsam das Eis von den Fenstern. Und aus den Rinnsalen heraus hob sich der Umriss einer Katze ab. Eine schneeweiße, große, schöne Katze. Sie hatte die Augen geschlossen, saß ganz still und gerade.
Der Riese sprang auf, streckte die Hände nach ihr aus und sagte zum zweiten Mal in diesem Winter die Zauberworte: "Geh nicht weg! Bleib bei mir! Ich brauche dich!" Da öffnete die Katze ihre leuchtenden Augen und kam zum Leben.
Als der Riese in diesem Winter in den Garten ging und in den weißen Schnee sah, war immer die weiße Katze bei ihm, die er aber nur sah, wenn sie die Augen öffnete. Sie war nicht nur im Schnee, sondern auch im weißen Raureif, im glitzernden Frost und im dichten, kalten Nebel. Sogar in der langen, weißen Gardine konnte er sie nun sehen.
Sie war schon immer dagewesen, nur hatte er sie nicht sehen können, weil sein Herz so schwer gewesen war. Sie hatte all die Jahre gewartet, dass er sie erkennt und ruft, sie weckt und mit ihr den Winter genießt. So erkannte der Riese, dass es im Winter eine stille und weiße Liebe gab, die nach der warmen und lauten Liebe des Sommers kam.
Und die weiße Katze wurde zu der kleinen, heißen Flamme in seinem glücklichen Herzen und würde nie wieder weggehen, wenn er sie nur immer erkennen wollte.
Das Jahr hatte nun nie wieder eine Lücke. Es war rund, mit zwölf Monaten, vier Jahreszeiten, vier Katzen.

2 Kommentare:

  1. 0
    Hilfreich?
    2. Okt 2010, 10:09 Uhr
    Nebel08

    Die Angst vor der Einsamkeit und die Zärtlichkeit der Liebe und Nähe ist sehr gut in bildhafte Sprache übersetzt. Bilder kann ich mir auch sehr gut dazu vorstellen. Crossmedial geht da eine Menge.
    Owner
    4. Okt 2010, 14:19 Uhr
    Ontheroad Ideen Autor

    Danke, lieber Nebel08.

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  2. Diese Geschichte hat es zwischen zwei Buchdeckel geschafft: "Winterreise", Anthologie zu den Dritten Berner Bücherwochen, Geestverlag, ISBN 978-3-86685-317-1. Oktober 2011

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