Sonntag, 5. September 2010

Von meiner Warte

Ich schaue ihr schon den ganzen Abend zu. Ihr Gang ist schwer, sie hat ihre Leichtigkeit verloren, kommt nicht mehr zur Ruhe, räumt ständig in den Schränken herum. Ach, wie ich das kenne! Bei allen Familien habe ich die Frauen immer am meisten geliebt. Sie brauchten mich, sie liebkosten mich, eine hat allerdings auch ihre Malfarben über mir ausgekippt, aber ich habe ihr verziehen – ihre Aquarelle waren wunderbar, nass in nass zerfloss alles, die Farben faserten sich wie Blumenkohlröschen ins Papier, und alles fand direkt auf mir statt! Aber wenn dann diese Unruhe aufkam und sie nachts mit offenen Augen nur einen Schritt von mir entfernt in ihrem Bett lagen, wusste ich schon, dass sie mich verlassen würden.

Jetzt kommt sie endlich zu mir, sinkt auf den Stuhl, schmiegt sich an meine Wölbungen, ihrer Hände gleiten über meine Rundungen, streichen über meine glatte Oberfläche. Sie legt ihren Kopf auf mich und weint. Ich atme den Duft ihrer Haare ein und sie meinen seit fast hundert Jahren immer noch zarten Holzduft. Jetzt zieht sie meine mittlere Schublade auf. Nimmt ihr Tagebuch heraus und schreibt! Leise schabt der Füllfederhalter übers Papier. Ich bin erleichtert, denn ich weiß, dass sie nun zur Ruhe kommen wird.

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