Freitag, 8. Oktober 2010

ROSALIE SOLO - das Leben einer Seekuh


(Aquarell von Bettina Smith-Schroeder)

Sie steht im  Wasser des alten Schiffgrabens. Bis zur Hälfte, damit man sieht, wie sie die Arme über der Brust verschränkt, als Zeichen ihrer nimmermüden, gütigen Geduld.  Ihre Lider sind rosa, die Wimpern lang, und auf der Stirn trägt sie eine Korkenzieherlocke.  Rosaliens Stolz und Sitz ihrer Keuschheit sind ihre hellblauen Achselhöhlen. Wenn die Sonne scheint trägt sie ein kleines, weißes Hütchen aus  Tüll, je nach Belieben mit Feld- und Wiesenblumen geschmückt. So steht sie, ein mildes, frauliches Lächeln auf den Lippen und harrt ihrer Kunden. Diese stürmen in wüstem  Gehabe heran. Rosalie strafft sich, entspannt ihre Gesichtszüge und empfängt sie. Sie wird getunkt und angebrüllt und doch ertrinkt sie nie. Man staucht sie, um sich abzureagieren, man erleichtert sein Gewissen, entlädt seinen Zorn bei ihr und flüstert ihr böse Geheimnisse ins Ohr. Gütig gönnt sie ihren Kunden Ohr und Rat. Das Wasser rinnt ihr dabei über die rosa Lider, und das Lächeln verschwindet nie von ihren Zügen.
Der hintere Teil des Schiffgrabens ist  sumpfig und verwildert. Im Schlamm modern die Sünden und Geheimnisse der letzten Jahrzehnte. Hier entlädt Rosalie die Last der Beichte, stampft sie schnaubend durch den Schlamm, würgt sie die ihr anvertrauten Geheimnisse wieder raus. "Und dass du ja Dein Maul hältst!" äfft sie ihre Kunden nach. Dann schiebt sie sich wieder durch das Schilfdickicht, ein entspanntes Lächeln auf den Lippen.
Madame Solos Stellung ist einmalig und unantastbar. Ihr Rat gilt und  man vertraut ihr.
Rosaliens Speiseplan ist exquisit aber handfest. Ihr Leib- und Magengericht sind Pfannkuchen. Dieser Leidenschaft frönt sie wann immer sie kann, obwohl sie nach ihrem Genus sichtbar in die Breite geht.  Wenn es Abend wird zieht sich Madame Solo diskret in das Röhricht zurück, um sich einen Riesenhaarroller für die Stirnlocke einzudrehen.  Sie ölt sich die seidigen Wimpern, und nach ihren abendlichen Meditationen im Scheine einer Kerze kippt sie nach hinten um, hält aber doch ihr Gleichgewicht. Nach einigem Hin- und Herruckeln legt sie sich auf den Rücken, die Hände über dem Bauch verschränkt, die langen Wimpern niedergeschlagen, die Füße, mit den drei Zehen, gerade aus dem Wasser ragend.  So treibt sie auf ihrem Schiffgraben umher. Ist es windstill, findet man sie des morgens an der gleichen Stelle wie am Abend zuvor, weht der Wind leicht, treibt sie ab ins Röhricht, kommt Sturm, kreist sie unaufhörlich und Schwindel erregend auf dem Wasser.

Rosaliens Milde und Güte sind bekannt in allen Landen. Ihre abgelegten Strohhüte lässt sie stets dem städtischen Fond für unterdrückte und hilfsbedürftige Seekühe zukommen. Allerdings geht sie nie so weit, dass sie Kränzchen oder dergleichen gibt. Sie liebt ihre Mitmenschen und Mitkühe auf weltumarmende Weise, doch lieber aus der Ferne.

Ihr Reich umschließt den Garten mit dem Schiffgraben und auch  den Hof mit der Teppichklopfstange. Hier kann sie mit ihren weichen, zarten Füßen über den Rasen gehen, und ihre drei Zehen finden noch Halt. Wenn sie zum Bäcker oder zum  örtlichen Gasthof, der  „Deutschen Eiche“ möchte,  besteigt  sie einen kleinen zweirädrigen Wagen, der lange von einem Schwein gezogen wurde. Genau genommen von einer Wildsau, einer Bache. Diese Bache war in jüngeren Jahren die Obersau des Ortes gewesen - sie hatte unzählige Frischlinge geworfen und in ihrer Freizeit sich dem Genus des kühlenden Schlamms im Schiffgraben hingegeben.  Doch als das Alter nahte hatten die  Wildsäue sie verstoßen und so war sie auf einen Broterwerb im Dienste der Seekuh angewiesen.

Doch Rosalie und Sau fielen verständlicherweise unangenehm auf, nicht nur im Straßenverkehr, sondern auch die Nachbarn und Mitbewohner empörten sich. War es vertretbar sich von einem Schwein chauffieren zu lassen?

Es bedurfte monatelanger Geduld, bis man ihr anhand von sozialkritischen Büchern verständlich gemacht hatte, dass alle auf der Welt gleich wären, zumindest einige. Von da an war es nur noch ein Katzensprung zur Entlassung der Bache. Diese ihrerseits quittierte den
Vorgang mit dem Androhen von nächtlichen Rüsselattacken auf die Gärten.  Seit dem findet so mancher  Bürger morgens seinen Garten wie von Säuen durchpflügt.

Nun geschah es aber eines Tages, dass Rosalie sich in die Gefahr begab, ihre  Betriebsgeheimnisse auszuplaudern und zwar, als sie sich sinnlos mit Zwetschgenwasser betrank.  Nach ihrem freien Tag  fand man sie weder im Schiffgraben, noch im Garten.
Hatte sie sich mit all den unseligen Kenntnissen der feuchten Beichtgeheimnisse davongemacht, sich etwa an die Ortspresse gewandt? Ihre Vertrauensstellung schamlos ausgenutzt, Verrat begangen?  Endlich entdeckte man sie auf einem  Hinterhof.  Sie hatte sich auf die Hände fallen lassen, gab vor, ein vierbeiniges Tier zu sein, muhte grotesk und in falschen Tönen.  Es roch stark nach Zwetschgenwasser, und Rosalie genierte sich nicht einmal den Kunden ihre hellblauen Achseln zu zeigen. Sogar beide. Sie baumelte an der Teppichklopfstange und bot ein schamloses Bild. Ihre sonntäglichen falschen Wimpern hatte sie kurzerhand an die Stange geklebt. Zu dem Gejohle und Gemuhe tanzte sie einen Tango.  Heute wird ihr Blick ganz starr und leer, wenn man die Taktlosigkeit besitzt, sie an diese Entgleisung zu erinnern.

Nach diesem Ereignis fand man Rosalie viel damit beschäftigt in die Bibliothek zu fahren und dort unauffällig an den Buchrücken entlang zu schlendern, hin zu den Büchern der Moraltheologie.  Man konnte sie oft zitierend über den Rasen gehen sehen, jederzeit  bereit, graziös den Kopf zu neigen, wenn Nachbarn am Zaun entlangkamen, jederzeit bereit, ein paar Worte über das Wetter von sich zu geben. Vielleicht auch noch eine kleine Lebensweisheit, die sie aus ihren moralischen Büchern hatte. Sie verschwand nun öfter und tiefer im  Röhricht, wo man sie bei den Kaulquappen schnauben und röhren hörte.  Und die vertrauensbildenden Maßnahmen ließen die Kunden erleichtert ihre Dienste wieder in Anspruch nehmen. Vergessen war auch die Zeit, wo sie mit der Bache vor ihrem Arenawägelchen durch die Straßen geprescht war, sie anheizend und aufmöbeln laut geschrieen hatte: "Schneller, schneller!" Und vor allem vergessen die beschämende Szene an der Teppichklopfstange.
Rosalie war reifer und verständiger geworden. Das kam ihrer Arbeit zugute. Wo sie früher mürrisch Wasser ihren nächtlichen Kunden ins Gesicht gespritzt hatte, sollte es einer wagen, sie zu später Stunde zu belästigen, da setzte sie heute ein müdes Lächeln auf und hörte sich
geduldig die Klagen an. Nur durfte man sie von hinten, wenn sie schlief und auf dem Wasser trieb, nicht anschreien. Dann ging sie sang- und klanglos unter.  Dies tat sie übrigens auch, wenn man sie persönlich beleidigte. Sie ging einfach unter und kam nicht mehr hoch. Bei klarem Wetter sah man sie dann auf dem Grunde des Schiffgrabens  stehen, an das Röhricht  gelehnt und an einem Grashalm nagend. Ihre Lungen waren kräftig und ihr Ärger berüchtigt. Nur Blasen, die hochstiegen, verrieten, dass sie vor sich hinredete.  Wenn sie gebeugt und mit zerfurchter Stirn und den Händen auf dem Rücken den Schiffgraben entlang lief, dann war auch nicht gut Kirschen mit ihr essen. Sie brachte es dann fertig, hämisch einen falschen Rat zu geben, und bis spät in die Nacht konnte man ihr grölendes Gelächter hören, wenn sie sich vor Schadenfreude auf die Schenkel schlug, dass das Wasser hoch aufspritzte.  Somit setzte sie der Läuterung Grenzen. 

So hat Madame Solo doch nie  ein Sterbenswörtchen über die ihr anvertrauten Klagen und Geheimnisse ausgeplaudert. Der von von ihr abgelegte Eid des Hippopotamus war ihr stets heilig geblieben. Bekanntlich ist dieser Eid nicht nur für Nilpferde sondern auch für Seekühe bindend. In all den vielen Jahren war sie verschwiegen gewesen, wie es nur eine Seekuh sein kann. Und so steht sie im Schiffgraben zu Sacrow, zur Hälfte im Wasser, Symbol kühischer Weisheit, Eleganz und Nützlichkeit, quasi unbezahlbar.
 
                                             


2 Kommentare:

  1. 2. Okt 2010, 10:03 Uhr
    Nebel08

    Verrückte Geschichte über unser menschliches Bedürfnis uns von Sünden und ählichen Bedrückungen frei zu machen. Wie wunderbar ist die Idee, eine geduldige und so engelsgleiche Seekuh besuchen zu können. Die Geschichte ist phantasievoll erzählt und wunderschön illustriert.

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  2. Zum Verständnis: Den Kommentar von Nebel08 habe ich von einem anderen Forum übernommen.

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