DER BREITE UND DER SCHMALE WEG
Durch die geschlossenen Klappläden dringt das Quietschen eines Handleiterwagens, entfernt sich langsam vom Haus. Das Kind hält die Augen geschlossen, wühlt sich tiefer ins Kissen. Weiß, wie Mutter jetzt den Wagen hinter sich herzieht, auf dem Weg zum Bahnhof, durch die Siedlung, über den schwarzen Schotterweg, und sie die S-Bahn dann nach Berlin trägt. Für eine ganze Woche. Es steht auf, zieht die Schublade mit Mutters Wäsche raus, drückt ihrGesicht in die weichen Pullover - rot und gelb. Sie duften nach ihrer Mutter. Ihre schöne Mama - mit rabenschwarzen Locken, klein und zierlich und in weiten, schwingenden Röcken!
"Püppi!" ruft Oma, "komm frühstücken!" Das Frühstück schmeckt nicht. Es gibt Mehlsuppe mit Zucker. Der Zucker reicht nur für Püppi und den großen Bruder Hänschen. Oma isst die Suppe ohne Zucker.
"Iß ordentlich, damit du nächstes Jahr zur Schule gehen kannst!"
Das Essen schmeckt überhaupt nie. Immer sind Mehlklumpen im Spinat, der Rosenkohl in Mehlschwitze und dann die ewige Mehlsuppe.
"Wenn wir das Mehl nicht hätten, wären wir im Krieg verhungert" erklärt Oma und schiebt den Teller vor Püppis Nase. Püppis großer Traum ist die Schule. Ein ganzes Jahr noch, und die Zeit vergeht so langsam. Mamas Schultertasche hat lange Riemen. Püppi wickelt sie sich um die Schultern - wie ein richtiger Tornister sieht es aus. ‚Alle werden glauben, dass ich zur Schule gehe’ denkt sie und marschiert singend die Straße runter zu Marlies. "Schia, schia, schia scho! Schrippen jibt’t im HO!"
"Meine Oma pellt Knochen" hat Marlies Püppi neulich erklärt und diese so Übles über Marlies Eßgewohnheiten vermuten lassen. Pelle von Knochen konnte auch nicht besser sein als Mehlsuppe.
Marlies schwingt auf dem Gartentor hin und her. "Wollen wir spielen?" ruft sie. Püppi folgt ihr in den Garten. "Wir spielen Friseur" schlägt Marlies vor. "Ich schneide dir die Haare ab und du jibst mir’n Groschen dafür."
Püppi betrachtet ihre langen, blonden Haare sorgfältig. "Nee, lieber nicht."
"Du hast doch nur dünne Ziepen. Mutti sagt, man muss oft schneiden, und dann werden sie dicker." Püppi ist immer noch nicht überzeugt. Hinter ihnen, im Treppenhaus, schlägt eine Tür zu und Getrappel nähert sich schnell.
"Das ist bestimmt die Hanna" sagt Marlies. " Ihre Mutter ist eine Schlampe".
"Was ist eine Schlampe?" fragt Püppi.
"Na, wenn man mit Russen schläft is’ man ne Schlampe!"
"Meine Mama schläft mit mir, aber nicht mit Russen" erläutert Püppi die häusliche Lage.
Hanna kommt zu ihnen rüber. Sie hat ein verheultes Gesicht und wischt sich mit der Hand unter der Nase lang.
„Na, hat’se dich wieder verdroschen?" fragt Marlies hämisch. Hanna kann nur schlucken und schniefen. Marlies greift nach ihren Zöpfen.
"Wir spielen Friseur und du jibst mir ’n Groschen, wenn ich dir die Haare schneide".
Und schwups zieht sie eine Schere aus ihrer Kittelschürze und säbelt an Hannas Zöpfen rum. Aus dem Schniefen wird Gebrüll. Hanna und Marlies liegen kreischend auf dem Boden. Hanna mit nur noch anderthalb Zöpfen, der eine ausgefranst wie ein kaputtes Elektrokabel. "Meinen Groschen her!" brüllt Marlies der wieder ins Haus flüchtenden Hanna hinterher.
"Jetzt wird die wieder verdroschen. Aber det ist die ja jewohnt!" Sie klopft sich den Sand vom Kleid und lauscht angestrengt zum Treppenhaus hin. Hanna schlägt in der oberen Etage die Tür zu, und es dauert keine zwei Minuten, bis man ihre Mutter kreischen hört.
"Sie ist eine Schlampe" beendet Marlies das Friseurspiel.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen