Sonntag, 5. September 2010

Das Jahr

JANUAR. Der erste warme Winternachmittag. Die Sonne streichelt mir das Gesicht, das Fensterblech scheint sich nach langem Winterschlaf zu dehnen und zu recken. Der Schnee ist schon brüchig. Gleich musst du kommen. Es soll unser letzter Tag sein. Ein Jahr lang sind wir umeinander herum gegangen, tanzen gewesen, Schlittschuh gelaufen, aber nie allein. Ich hatte dich als Protz eingeschätzt, stets laut und oft betrunken. Dein Berliner Wedding-Akzent war dir so viel wert wie der erste Teller eines reich gewordenen Tellerwäschers. Wenn du Blumen kauftest, mussten es Rosen sein, und dein Auto war natürlich ein Mercedes. Das alles lag mir nicht. Und dann kam die Nacht, als wir bei Freunden übernachteten. Ich wachte früh um fünf Uhr auf und sah dich vor meinem Bett nur im Unterhemd sitzen. - Der Kerl muss betrunken sein - schoss es mir durch den Kopf. "Willst du eine Alka-Setzer?" fragte ich zögernd. Lieber Gott, er wollte ganz andere Dinge. Zum Beispiel die Punkte auf meinem Nachthemd zählen. Damals wollte ich nicht. Doch das hielt nicht lange an. Ich hatte bald Schmetterlinge im Bauch, wenn ich nur an dich dachte. Aber ich war nicht die einzige Frau für dich. Du konntest dich nicht zwischen den anderen und mir entscheiden; und ich will jetzt vernünftig sein und mich von dir trennen. Du siehst müde aus, bist traurig und bedrückt. Ziellos fahren wir umher. Meine Hand rutscht suchend zu dir herüber. Ich schiebe sie dir unter deinen Oberschenkel. Das Tiergarten Café. Draußen ist der See noch zugefroren. - Und nie bin ich mit dir dort spazieren gegangen. - Wir trinken schweigend unseren Kaffee. Warum soll es schon zu Ende sein, bevor es richtig begonnen hat? Wir fahren weiter. Die Groninger Straße. Weddinger Hinterhöfe. - War es hier, wo du als Kind und dort, über dem Hof? - Bei Karl rasierst du dich. Ich warte im Wohnzimmer am Ofen. Ich warte gerne; eine zärtliche Ruhe erfüllt uns. Nun liegt mein Kopf auf deinem Schoß, und die Bäume des Tegeler Waldes fliegen über mir hinweg. Dort hinten, am Ende der Allee, wo der runde Parkplatz ist, halten wir an. Die Nachmittagsstunden verticken. Kindheitserinnerungen, Sehnsüchte und Zukunftsträume. Wir werden uns nicht trennen. Wir bleiben zusammen! Wir werden zusammenziehen, heiraten, gemeinsam alt werden. Nur dies soll unsere Tage bestimmen.

APRIL. Der Frühling ist da, und mit ihm kommen Duisburg und Düsseldorf. "Du hast noch nie den Rhein gesehen? Komm, ich zeig’ ihn dir!" Wir hüpfen wie die Frösche über Pfützen zum Ufer, lehnen uns weit über die Mauer. Vor uns in der Nacht dunkles, vom Regen aufgewühltes Wasser. Du nimmst mich in deine Arme - wirbelst mich herum. Nun laufen wir tropfnass durch die Strassen. Der Regen schlägt uns ins Gesicht. Zurück in Berlin beginnt wieder der Alltag für uns. Wenn ich nicht zur Schule muss, nimmst du mich mit auf deinen Fahrten zu Kunden, ich besuche dich in der Werkstatt. Von der Esse her faucht mich die Wärme an. Der Geruch von Holz, Öl und Farbe bleibt stets in deinen Haaren zurück. Tag für Tag führt mich der Weg zu dir, beladen mit Thermosflasche, Obst und Schnitten.

JUNI. Ein langer, heißer Sommer voller Erdbeeren und verschlafenen Nächten und Tagen im Glienicker Wochenendhäuschen meiner Eltern. Erst gestern war’s, als meine Haut noch von der Sonne zu glühen schien und ich mir den Glienicker See aus den Haaren schüttelte. Heute rauscht der warme Sommerregen gleichmäßig, und ab und zu fällt ein besonders großer Tropfen auf mein Fensterbrett. Beim Anziehen bemerke ich den Geruch meines Pullovers. Ein bisschen feucht vom Regen. Er riecht nach Schlaf und Glienicke. Ich kann fast deinen warmen Körper spüren. Oder deine Hand die so schwer auf mir lag, als du schliefst.

JULI. Ich habe meine Prüfung an der Industrie- und Handelskammer bestanden und auch meine erste Stelle als Übersetzerin gefunden. Wir wohnen jetzt zusammen. Wie ein Kreisel drehe ich mich jeden Tag um dich. Früh um halb sieben klingelt der Wecker, und ich rolle schlaftrunken aus dem Bett, mache dir Kaffee und Frühstück, kaufe dir Zeitungen, und ganz gleich, wie ich mich beeile, ich verpasse doch immer den Bus. Ich bin Hausfrau und berufstätig. Der Stolz wiegt alle Mühen auf. Keine Wartezeit an der Haltestelle und keine Busfahrt ist mir zu lang: Meine Gedanken drehen sich um dich. Im Büro schreibe ich in jeder freien Minute endlose Einkaufslisten für die Wohnung und Geschenklisten für alle Feiertage des Jahres und durchlebe im Voraus unsere ganze Zukunft. Um zehn Uhr herum wecke ich dich telefonisch. Und zähle jede Minute bis zum Büroschluss. Jede Überstunde treibt mich zur Verzweiflung. - Nun kann ich nicht mehr einkaufen gehen! - Und ich wollte doch ..... Ich will so viel. Kochen, Waschen, Geschäftsbriefe schreiben und deine Liebe. Abends gehen wir öfter zu "Paukchens Pavillon ". Gestern war mir auf dem Nachhauseweg übel, und du hast deine Hand auf meinen Magen gelegt und nur mit einer Hand gelenkt. Automatisch hast du das getan, was ich immer tue, wenn dir nicht wohl ist: Ich streichel und wiege dich in meinen Armen hin und her, bis du eingeschlafen bist. Schon hat die Gewöhnung aneinander sich bei uns eingenistet.

AUGUST. Die Nächte sind ein warmes, dunkles Hin und Her des Schlafens und Halbwachseins. Wie auf weichen, gleitenden Wellen trägt mir mein Bewusstsein deine Gegenwart zu. Ich wage kaum zu schlafen. Ich könnte es sonst nicht richtig genießen, dass du da bist. Deine Wärme, deine Nähe ist das erste, was ich früh spüre, und das letzte, was ich fühle, bevor ich abends in weiches Dunkel falle. Wie nahe kann man jemandem sein? Du puffst mich hartnäckig mit deinem Knie. Ich grunze verschlafen und genieße blinzelnd das helle Sonnenlicht in unserem Zimmer. Kringel auf der Gardine, auf dem Teppich und auf deinen störrischen Haaren. Du öffnest ein Auge und drückst es wieder zu. Ich ignoriere das. Schamlos zwinkerst du mich an. Das Knuffen hört nicht auf. So rupfe ich dir deine sandigen, struppigen Locken. Wir balgen uns. Dein Bein hier und meins dort. Wir kugeln, und der Fußboden hat mich wieder. Es ist Sonntag, ich brauch’ nicht ins Büro und du nicht in die Werkstatt.

SEPTEMBER. Früh um viertel nach sechst bist du wiedergekommen. Ich habe frischvergnügt mein Bügeleisen geschwungen und dich gefragt, ob du dich gut amüsiert hast. Mit trüben Augen und spitzbübischem Lächeln bist du in die Küche geschwankt. "Blumen, bla, Blumen jibt’s nich. Nich bei mir! Ich bin so, wie ich bin! Basta! " Mein Bügeleisen zischt gemütlich. Kein Vorwurf. Stille. Liebevolles Hemden zusammenlegen meinerseits. Unzufriedenes Lachen aus der Küche. "Mecker doch. Na los!" Was habe ich vom Meckern? Beim nächsten Mal werfe ich dir einfach den nächstbesten Gegenstand an den Kopf. Und beim übernächsten Mal? Wenn du ausgeschlafen hast, dann wirst du mir wieder mit einem bezauberndem Lächeln erklären, dass ich die wunderbarste Frau auf Gottes weiter Erde sei oder dein bester Kumpel und dass ich nicht hinhören soll, wenn du betrunken bist.

OKTOBER. Oh, ihm ist der Kragen geplatzt! Immer diese Verschwendungssucht meinerseits. Er hat mich wieder beim Taxifahren erwischt. Er fuhr mit seinem Mercedes vor, und da stieg ich gerade aus dem Taxi. Mein Drei-Zentner-Einkaufskorb fiel mir vor Schreck fast aus der Hand. "Musst du dir immer ein Taxi leisten? So viel verdienst du doch nicht?!" Resigniert schleppe ich alles nach oben. - Vielleicht sollte ich auch mehr zum Kostgeld beisteuern? Auf dem Schreibtisch liegen Taxiquittungen. Sie sind aber nicht von mir. Von ihm auch nicht. Seit wann kann man Freundinnen von der Steuer absetzen? Buchführung ist mein Revier. Er ist zitierend die Treppe hinter mir hochgestiegen: "... und vom Kostgeld kaufst du dir obendrein Strumpfhosen!!" Sagt’s, zieht ein frisches Hemd an und fährt zu Klarabella Soundsoviel, um ein teures Abendmahl einzunehmen. Später bekomme ich dann die Quittung wieder für die Buchführung. Die Aktion läuft unter: "Liebling, ich habe in der Werkstatt noch etwas zu tun." Ich glucke über dem Essen wie eine Henne über schon längst flügge gewordenen Küken und kipp’s dann weg. Dieses Weib kann nicht haushalten. Aber ich hab schon gelernt dass man Champignons nicht tagelang aufwärmen kann.

NOVEMBER. Was nun? Drei Uhr früh. Ich schaue mich um. Auf dem Tisch stehen Blumen, daneben liegt mein Strickzeug. Meine Küche ist sauber, zu sauber, alle Rechnungen sind geschrieben, bin ich nicht perfekt? Zu perfekt. Zuerst möchte ich mich am liebsten umbringen, wenn ich allein in der Wohnung sitze und auf ihn warte. Und dann kommt die Müdigkeit. Nichts zählt mehr. Nur die Ohrfeige brennt noch, die du mir neulich gegeben hast. Soll er, soll er doch... Alles, was ich will, ist Ruhe. Ruhe vor mir selbst, vor meinen verzweifelten Versuchen, den Fehler bei mir zu finden, Ruhe vor deinen sich widersprechenden Erklärungen. Heute Liebe, morgen Untreue. Ist dies das Gesicht meiner Zukunft? Was für Regeln herrschen da zwischen Mann und Frau? Soll ich spielen: Heute mach’ ich mich rar, morgen dich eifersüchtig? Hasch‘ mich, du besitzt mich noch nicht ganz? Kann man jemanden besitzen? Und so schleicht die Müdigkeit ins Herz. Vielleicht ist es an der Zeit, dass ich lerne, wie man Liebe verbirgt, und nicht, wie man sie zeigt. Aber auch das ist ein Spiel. Wie wird man erwachsen? Wann hören die Spiele auf?

DEZEMBER. Nebel, Nebel ... . Dick wallend am Fluss, in Fetzen in den Strassen. Wie muss das sein, wenn man einen Menschen sucht, ihn nicht findet und immer weiter irrt, ohne zu begreifen, er wird nie wieder kommen? Ich jedoch habe dich immer wieder gefunden. Ein Bus kam, der sonst nie hier lang fuhr. Die Leute in ihm schienen schon zur Frühschicht zu fahren. Ich wusste nicht, in welche Richtung er fuhr, stieg blindlings wieder aus. Der Nebel schluckte mich. Und dann begann die Suche mit dem Taxi. Alle bekannten Bars. Später hockte ich wieder auf meinen drei Kissen auf dem Stuhl am Fenster. Vom Tegeler Flughafen her strich der Lichtschein über den Himmel, schnell und huschend wie ein Scheibenwischer. Alle paar Sekunden. Der Nebel ist fort. Schnee fällt in dicken Flocken. Die Scheinwerfer der Autos geistern durch diesen Schneevorhang. Regen dribbelt die Scheibe herunter. Frost fängt ihn auf und lässt ihn erstarren. Ich bin so müde, und werde nie wieder schlafen können. Der Morgen kommt, ich ziehe mich an. Es wird Zeit für mich zu gehen. Auf der Treppe treffe ich dich.

JANUAR. Amerika liegt vor uns. Dort willst du mich heiraten, mit mir durch dick und dünn gehen, mich auf Händen tragen und mich nie wieder betrügen. Ein ganz neues Leben soll beginnen. Ich habe schon mein Visum beantragt. Du fährst vor, um eine Wohnung zu besorgen und um Arbeit zu finden. Weißt du auch, dass ich mein Visum rückgängig machen werde, wenn ich zurück in Berlin bin? Bis zum Schiff in Genua werde ich dich noch begleiten, und nicht weiter. Es wird dir nicht lange wehtun, mein Grauer. Ein bisschen verletzter Stolz, ein bisschen Sehnsucht nach meiner Liebe und meiner Hände Arbeit für dich. Wie lange wird es mir wehtun? Ein Jahr lang habe ich dir alles gegeben, was ich hatte. Du wirst ein paar Telegramme schicken, anrufen und die berühmten roten Rosen schicken. Das werden wir überwinden. Auch noch eine Woche lang die kleine, weiße Lüge unserer gemeinsamen Zukunft, die hier in Genua beginnen soll. Und dann kommen die ersten entspannten Tage. Es ist schön, ganz allein mit sich ins reine zu kommen. Nicht darüber zu reden. Der Schmerz wird später kommen. Wir gehen täglich zum Meer runter, wandern über den knirschenden Strand. Ich suche nach bunten Strandsteinen und Scherben, die dann meine Anoraktaschen gewaltig ausbeulen. Wir steigen über Felsen und sonnen uns erschöpft von einem langen Winter. Nachmittags beobachten wir die Fischer und sitzen stundenlang in dem runden Strandcafé in Arenzano, das fast leer ist, wo der Caffelatte immer etwas bitter schmeckt. Du willst dir einen Schnurrbart wachsen lassen, und ein ständiger Schatten liegt jetzt auf deiner Oberlippe. Er wird rot werden, glaube ich, oder doch wenigsten rot-braun und nicht aschblond, wie dein Kopfhaar. Auf unseren Spaziergängen streifen meine Augen Häuser und Gärten, geführt von dem alten Wunschtraum, da mit dir zu leben. Doch wenn ich die Augen schließe, sehe ich mich nur allein in allen Räumen. Ich habe einen Zweig abgebrochen, der in unserem Zimmer einen Zitronenduft verbreitet, besonders, wenn man den Stiel ins Wasser legt. Dies ist das einzige Mittel, den starken Ölgeruch zu schlagen, der aus der Küche kommt. Ich nehme alles in mir auf, den Zitronenduft, den Geruch deines Tabaks. Und bin gar nicht mehr da. So tut es nicht weh, als es aus ist mit den Spaghetti, dem billigen Rotwein, den jämmerlichen Katzen unter deinem Auto vor der Pension und deinen Pfeifenstunden. Warten, Zeittotschlagen und Gepäckabfertigung. Ich kann nicht mit aufs Schiff kommen.

Ist dies das Letzte, das ich von dir in Erinnerung haben werde? Der Strippenregen, das hastige Verstauen im Taxi auf dem Ponte dei Mille und ein verzweifeltes An-Dich-Ziehen "See you in New York" und der seltsame Ausdruck in deinem Gesicht. Wusstest du, dass es für mich kein New York geben würde? Mich hat der Zug dann fortgetragen. Mit klemmenden Fenstern, aus denen ich mich weit rauslehnte, um den Wind zu schlucken und um keinen Kontakt mit anderen Reisenden aufnehmen zu müssen. Immer weiter in den Norden, weiter weg von dir und immer näher zu mir. Rauchst du noch Pfeife? Wie ist New York? Aber will ich das wirklich wissen?

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